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Emilia - Herzbeben

Emilia - Herzbeben

Titel: Emilia - Herzbeben
Autoren: Nina Nell
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drehen, nahm sie ihre Kleider vom Stuhl, klemmte sie sich unter den Arm und stolperte noch etwas wackelig ins Bad. Sie stützte sich noch einen Moment auf dem Waschbecken ab und sah seitlich in den großen Schrankspiegel. Er zeigte ihr in dem gnadenlosen Morgenlicht ihre kümmerliche Statur. Das Nachthemd mit den Spagettiträgern ging ihr gerade so über den Po und so präsentierte sich die Dürre ihrer Beine, ihres Pos, ihrer Arme und ihres Busens. Sie sah aus, als sei sie magersüchtig, obwohl sie – besonders in letzter Zeit – so viel gegessen hatte, dass sie oft Magenschmerzen bekommen hatte. Ihr 16. Geburtstag rückte immer näher und sie sah immer noch aus wie 12. Klein, dünn und krank. Ihr Plan, an ihrem Geburtstag wenigstens ein bisschen mehr auf die Waage zu bringen und vielleicht auch ein wenig weiblicher zu wirken, würde wohl wieder nicht aufgehen. Denn egal wie viel sie auch aß, es setzte einfach nichts an. Sie warf sich noch einen missmutigen Blick zu und wandte sich dann mit einem hoffnungslosen Seufzen von sich ab. Unten im Wohnzimmer lief der Fernseher und sie lauschte den Nachrichten, während sie sich die Zähne putzte und sich frisch machte. Das lenkte sie davon ab allzu sehr darüber nachzudenken, was heute für ein Tag war. Sie hatte die Gedanken daran in den letzten Tagen recht gut verdrängen können. Als sie aber die Stufen hinunter kam und die Koffer an der Haustür stehen sah, wurde es ihr brutal ins Gedächtnis zurückgerufen. Sie versuchte das unangenehme Kribbeln in ihrem Bauch zu unterdrücken und ging mit gesenktem Kopf durch das Wohnzimmer in Richtung Küche. Dabei bemerkte sie jedoch aus dem Augenwinkel das Bild eines Jungen in den Nachrichten undblieb stehen.
    »… schwebt immer noch in Lebensgefahr. Das Unwetter, das aus unerklärlichen Gründen über eine Schule hinweg gefegt war …«
    »Mia? Kommst du?«, rief ihre Mutter aus der Küche.
    Doch Mia stand wie angewurzelt vor dem Bildschirm und betrachtete die zertrümmerte Schule und den verwüsteten Vorhof. Anna trat aus der Küche heraus und stockte, als sie die Nachrichten sah.
    »Das Phänomen ist den Meteorologen immer noch ein Rätsel. Augenzeugen zu Folge sei nur Stefan B. von der Windhose erfasst worden. Alle Schüler in seiner näheren Umgebung hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Doch auch sie hatte das Unwetter schwer mitgenommen. Viele berichteten von schweren Atemproblemen und …«
    Mia schnaubte. Sie erwähnten sie immer noch nicht. Sie hatte direkt vor ihm gestanden und nicht einen einzigen Hagelkorn abbekommen! Warum berichteten sie nicht über dieses Phänomen? Und warum war sie bisher noch kein einziges Mal dazu befragt worden? Mittlerweile waren auch Meteorologen aus anderen Ländern angereist, um zu untersuchen, was hier vorgefallen war und viele Schüler wurden psychologisch betreut, da sie ein schweres Trauma davongetragen hatten. Nicht, dass sie das auch gewollt hätte, aber es war schon merkwürdig, dass niemand danach fragte, wie es ihr bei der ganzen Sache ging. Schließlich hatte sie vor dem Jungen gestanden und mit angesehen, wie er von dem Hagel halb erschlagen worden war und nicht die anderen. Die ganze Sache verfolgte sie sogar in ihre Träume.
    Plötzlich kam ihre Mutter in den Raum und suchte nach der Fernbedienung. »Geh in die Küche, Mia! Wir müssen gleich los!«, sagte sie hektisch. Mia beobachtete, wie sie verzweifelt nach der Fernbedienung suchte und schließlich, als sie sie nicht fand, zum Fernseher hetzte, um ihn dort auszuschalten. Dann strich sie sich gestresst das blonde Haar aus dem Gesicht und schob Mia in die Küche. »Frühstück«, sagte sie nur.
    Mia setzte sich resignierend an den Tisch. Sie wollte ihre Mutter nicht unnötig quälen. Es war schon schlimm genug für sie,erfahren zu haben, dass ihre Tochter mitten in dieses Unwetter geraten war – und überraschenderweise nicht einen Kratzer abbekommen hatte – während der Junge, der in ihrer unmittelbaren Nähe gestanden hatte, immer noch in Lebensgefahr schwebte. Aber keiner schien sich für dieses Phänomen zu interessieren. »Ist Papa schon weg?«, fragte Mia seufzend, um das Thema zu wechseln. Sie wusste, dass es ihr unangenehm war. Ihre Mutter sprach nicht gern über Dinge, die ihr Angst machten oder die ihr Sorgen bereiteten.
    »Ja«, sagte Anna und wischte nervös die Küchentheke ab. Mia sah ihre Hände vor Nervosität zittern, als sie den Lappen zusammenfaltete. Sie war schon seit Tagen so.
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