Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emilia - Herzbeben

Emilia - Herzbeben

Titel: Emilia - Herzbeben
Autoren: Nina Nell
Vom Netzwerk:
Blickkontakt störte und sie nun nicht mehr nur auf ihn fixiert war, sondern auch wieder die anderen sah. Die Jungs hinter ihm entfernten sich mehrere Schritte. Ihr Haar wirbelte unnatürlich durch die Luft. Stürmte es? Sie konnte nichts fühlen. Sie hörte nur ein Pfeiffen. Ein ohrenbetäubendes Pfeiffen und Schreie. Die Schüler rannten wild durcheinander, suchten Schutz unter dem Dach der Schule oder in den Gebüschen. Sie schmissen sich unter die Autos, hielten sich ihre Taschen über die Köpfe und liefen wie vom Teufel gejagt über den Hof. Erst, als Mia hörte und sah, wie faustdicke Hagelkörner vom Himmel fielen und auf den Boden knallten, verstand sie, was los war. Ein Unwetter! Es toste um sie und auch um den Jungen herum, der immer noch dastand und sie erschrocken ansah. Er bewegte sich nicht vom Fleck. Der Wind riss an ihm. Sein Körper schwankte hin und her und manchmal traf ihn der Hagel sehr hart. Doch er bewegte sich nicht. In seinem Gesicht konnte sie den Schmerz erkennen, der ihn peinigte. Er war käseweiß! Und seine Lippen färbten sich langsam blau. Er atmete nicht mehr!
    Mia zog irritiert die Augenbrauen zusammen. Bald schon konnte sie ihn kaum noch erkennen. Ein dichter Nebel zog auf und tauchte sein Antlitz in eine milchige Suppe, die kühl und feucht ihre Körper hinauf kroch. Als ihn ein Hagelkorn so heftig an der Schulter traf, dass es knackste, erschrak Mia so sehr, dass sie die Hände auf ihren Mund schlug und sich rückwärts von ihm entfernte. Sie sah in den Himmel. Er war pechschwarz. Und der Wind wirbelte Äste und Blätter durch die Luft. Doch nichts davon kam auch nur in ihre Nähe. Sie bekam nicht einmal Staub in die Augen. Irgendwann hob der immer stärker werdende Sturm denJungen wie eine kleine Puppe in die Luft. Mia beobachtete entsetzt, wie er hinauf gesaugt wurde und sich in der Luft drehte. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie um Hilfe rufen musste. Sie musste ihm irgendwie helfen. Doch es war ihr egal, ob er litt. Es war ihr egal, wie viel Angst er hatte. Und es war ihr egal, ob er da oben starb.
    »Mia?«
    Die Genugtuung, die sie empfand, zeichnete sich in einem kleinen, aber schadenfrohen Lächeln ab. Am liebsten wäre sie ihm hinterher gekommen, um ihn zur Hölle zu schicken und ihm dort seine gehässigen Worte aus dem Gesicht zu prügeln. Und gleichzeitig hasste und schämte sie sich für diese Gefühle.
    »Mia, wach auf!«
    Jemand strich ihr warm über die Wange und rüttelte an ihrem Arm. Und dann riss sie die Augen auf. Sie blickte direkt in das Gesicht ihrer Mutter. In das wunderschöne, sanfte Gesicht, mit den warmen, weichen Zügen und den immer besorgten, smaragdgrünen Augen.
    »Du hast geträumt«, sagte sie sanft zu ihr.
    Mia setzte sich schnell auf, atmete tief ein und hielt sich die Hand an den heißen Kopf. Sie spürte immer noch die Wut unter ihrer Haut kochen. »Habe ich geredet?«, fragte sie, ohne aufzusehen. Sie flehte den Himmel an, dass sie kein Wort verloren hatte. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter erfuhr, was sie manchmal für hasserfüllte Gedanken hatte.
    »Nein«, sagte ihre Mutter, »nur unverständlich gemurmelt.«
    Mia hörte ein Schmunzeln in ihrer Stimme, traute sich aber nicht, sie anzusehen. Sie war noch zu aufgebracht. Und ihre Gefühle waren ihr leicht vom Gesicht abzulesen.
    Anna stand jetzt auf, tippte mit einem Finger auf den Nachtschrank, auf dem bereits Mias Medizin stand und ging zur Tür. »Komm. Wir müssen bald los.«
    Als sie den Raum verließ, ließ Mia ihr Gesicht in ihre Handflächen sinken und seufzte schwer. Sie brauchte noch einen Moment, ehe sie wieder vollständig in die Realität zurückgefunden hatte. Erst, als sie die Bettdecke bewusst spürte, die aufgebackenen Brötchen roch und die Geräusche der Autos vor dem geöffneten Fenster hörte, hatte sie das Gefühl ganz da zu seinund schob die Beine langsam aus dem Bett. Sofort griff sie nach dem kleinen Glas mit der roten Flüssigkeit, trank es ganz aus und stand auf. Sie war noch schwach auf den Beinen und schwankte zu dem Stuhl, auf dem ihre Klamotten lagen. Alles drehte sich und in ihrem Kopf entstand ein unangenehmer Druck. Sie schloss die Augen, hielt sich an dem Stuhl fest und atmete ein paar Mal tief durch. Es würde gleich vorbei gehen. Das war immer so. In letzter Zeit war es zwar schlimmer als sonst, aber es brauchte meistens nur ein paar Minuten, bis ihre Kraft wieder voll da war. Als das Zittern ihrer Muskeln nachließ und das Zimmer aufhörte sich zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher