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Emil

Emil

Titel: Emil
Autoren: Dror Burstein
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verschlingenden Autobahnkreuzes auf. Wieder dieses Stechen. Ein leises Ah! entfuhr ihm, der Arzt hatte nichts gehört. Joel trat hinter dem Paravent hervor.
    Setzen Sie sich, Herr Sissu, setzen Sie sich … sehen Sie sich diesen Graph an, ich drehe mal das Display in ihre Richtung … toll ist diese heutige Technik, ich bin hier mit der Computerzentrale verbunden … alle Kranken sind mit mir vernetzt … heutzutage sind alle schwerkrank, ich selbst bin schwerkrank, mein Bein macht mich verrückt, als Arzt sollte ich mich dazu anders stellen, aber sehen Sie mal, was für ein Bein ich abbekommen habe, eines gesund, das andere schwerkrank, direkt ins kranke Bein bekomme ich Spritzen, Herr Sissu, und wissen Sie, einmal hat man mir ins gesunde Bein gespritzt, und dann wurde auch das gesunde krank … kein Verlass mehr auf die Ärzte heutzutage … dabei bin ich selbst Arzt, ich … was? wie bitte? Sprechen Sie deutlich, murmeln Sie nicht vor sich hin. Und da sah Joel folgendes Bild: Er, Joel, auf einer kalten Metallliege schlaff und reglos daliegend, nackt und tot, die Augen geschlossen, und gleichzeitig sah er sich selbst durch eine Art rundes Fenster mit Maschendraht und schämte sich für sein nacktes Fleisch, auch sein Glied lag bloß, armselig und schrumpelig, Menschen gingen gleichgültig an ihm vorbei, das Personal der Leichenkammer, Schwestern, Ärzte, der Sicherheitsbeamte, die Putzfrau, und es wurde ihm klar, dass er überhaupt kein Bedauern, keinen Gram über seinen Tod empfand, nur Beschämung, was für eine Schande, warum hatte man ihn nicht mit einem Laken zugedeckt.
    Einige Tage später hatten sie auf dem Balkon ihrer Wohnung mit Blick auf die Synagoge in der Smuts-Straße gesessen. In der Wiege lag das Kind. Das haben wir gut gemacht, sagte Joel, und Lea sagte: Er hat uns gewählt. Joel Sissu, unfruchtbar. Unvermittelt erhob er sich, ging zur Eingangstür, einen Filzstift in der Hand, und setzte auf dem kleinen Türschild Emils Namen hinzu. Fuhr auch ihre beiden Namen nach. Verstohlen, hastig, zog er um die drei Namen eine wolkenförmige Umrahmung.
    Durch den Türspion auf der anderen Seite des Flurs hatte ihn mit zusammengekniffenem Gesicht ein alter, kinderloser Nachbar beobachtet.
    Auf einer Bank auf dem Rothschild-Boulevard sitzend, erinnert er sich nun, wie er sich damals auf dem Balkon vorgestellt hatte, aus seinem Glied fließe sein Samen in den Körper des Jungen hinein und werde von ihm aufgesogen. Oder wie er nachts das Kind hochgehoben und vorsichtig in den Schoß seiner Frau gelegt hatte, und wie es sanft hineingeglitten war, und er hatte bis zum Morgen dort gewartet, bis es hinausschlüpfte ans Licht der Welt.
    Die Passanten hatten ihre Zweifel an dem Kind.
    Damit man es nicht andauernd beäugte, zog er es fort in einen entlegenen Garten. Dort versteckten sie sich zwischen den Bäumen. Es war der Botanische Garten im Norden der Stadt, der für ihn zum geheimen Garten wurde. Einmal sahen sie einen Blinden mit einem weißen Stock zwischen den Fußwegen umhertasten. Joel wollte ihm zu Hilfe eilen, rief ihm schließlich aus der Ferne zu: He, brauchen Sie Hilfe?, und der Blinde antwortete: Bleiben Sie nur beim Kind,
Baba
, alles in Ordnung, ich muss nur pinkeln, sehen Sie nicht her. Er stellte sich an eine große Eiche. Joel wandte den Blick ab. Hörte jedoch das Wasser aufs trockene Laub prasseln.
    Plötzlich musste er ans Meer denken, und wie er einmal, während seines Ingenieursstudiums in Kalifornien, am Stillen Ozean gesessen hatte. Blumenfelder. Er hatte sich umgeblickt in alle Richtungen, da war keiner, und anfangs hatte er Angst verspürt, dann aber die Arme ausgebreitet und vor Freude geschrien, es kümmerte ihn nicht, ob sich inzwischen doch jemand näherte, es war ihm egal, ob ihn jemand sah. Im Gegenteil, er wollte, dass man ihn sah. Jenseits des niedrigen Gartenzauns brausten die Autos über die Ajalon-Stadtautobahn. Jede Straße muss man sich als ferne Fortsetzung irgendeiner Kreuzung, eines Autobahnknotens denken, dachte er, dann wird alles klar und man sieht das große Bild. Jenseits des Gartens ist unser Meer, und jenseits des Meers der Ozean, dachte er. Miteinander verbunden. Die Menschen meinen, jede Straße habe Anfang und Ende. Aber das stimmt nicht, wenn sie aus ist, beginnt eine andere Straße, und noch bevor die anfängt, ist da noch eine, und sie fließen dahin wie die Quellflüsse eines Stroms, bis sie zu den großen Kreuzungen, den Brücken und Knoten kommen und in die
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