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Elfenzorn

Elfenzorn

Titel: Elfenzorn
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ohne besonderen Erfolg. Der unterirdische See lag weiter so unbewegt und schwarz da wie eine Ebene aus erstarrtem Teer, aber unter dieser reglosen Oberfläche musste es wohl eine verborgene Strömung geben, denn das Schiff wurde keineswegs langsamer, sondern schien ganz im Gegenteil eher noch Fahrt aufzunehmen.
    »Hast du jemals Lederstrumpf gelesen?«, fragte sie.
    »Lederstrumpf ?« Lion schüttelte den Kopf. »So was trag ich nicht mal!«
    Pia blieb ernst. »Als Chingachgook seinen Verfolgern zu entkommen versucht«, erklärte sie, »da versteckt er sich in einem Kanu und lässt sich einfach von der Strömung davontragen. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht treibt er auf dem See, undals die Sonne wieder aufgeht, da stößt das Kanu endlich ans Ufer, und er wagt es, unter seiner Decke hervorzukriechen und sich aufzusetzen. Und weißt du, was das Erste ist, was er sieht?«
    »Der Himmel?«
    »Ein Dutzend grinsender Delaware-Indianer«, antwortete sie. »Die wussten nämlich, wo die Strömung das Kanu ans Ufer spülen würde, und haben einfach auf ihn gewartet.«
    Jetzt war es Lion, der noch einmal »Hm«, machte und dann wieder finster zu den Elbenkriegern am Ufer hinsah. Nach einer Weile fragte er: »Auch auf die Gefahr hin, dass Ihr mich jetzt für kleinlich haltet, Prinzessin: Aber sollten die da nicht eigentlich auf unserer Seite sein ... oder wenigstens auf Eurer?«
    »Ich glaube, sie stehen auf niemandes Seite«, antwortete Pia. »Allerhöchstens auf ihrer eigenen.« Sie nahm den Elfenzorn wieder auf (ohne sonderliche Überraschung registrierte sie, dass die diamantene Klinge vollkommen makellos war, trotz all der Leben, die sie genommen hatte), schob ihn in seine Scheide und ging die wenigen Schritte zu Ixchel hin.
    Die Hohepriesterin sah mehr denn je aus, als schliefe sie nur. Auch wenn sie bisher der Meinung gewesen war, dass das gar nicht möglich wäre, hatte sich ihr Gerichtsausdruck nach ihrem Tod noch einmal verändert. Sie wirkte jetzt ganz eindeutig friedlich , und da war noch immer jenes unterschwellig Vertraute in ihren Zügen, das sie immer noch nicht verstand. Der Anblick schnürte ihr fast die Kehle zu.
    Unendlich behutsam ließ sie sich neben ihr auf die Knie sinken und streckte die Hand aus, um sie zu berühren, wagte es aber dann aus irgendeinem Grund nicht.
    »Du hast sie gemocht, stimmt’s?«, fragte Lion.
    Gemocht? Sie wusste es nicht einmal. Gemocht war vielleicht das falsche Wort. Sie hatte sie ja kaum gekannt. Und dennoch ... da war etwas, was sie mit dieser alten Frau zu verbinden schien, selbst jetzt noch, da sie tot war. Es war verrückt, aber es war so. Sie antwortete nur mit einem Schulterzucken.
    »Obwohl sie praktisch zugegeben hat, dass sie hinter dem Anschlag auf dich steckt?«
    »Ihr Sohn, nicht sie«, antwortete Pia, und das so heftig, dass Lion sie verdutzt anstarrte. Nach einer Pause und in erzwungen ruhigerem Ton fuhr sie fort: »Vielleicht wusste sie ja, dass mir nichts passiert.« Lions Stirnrunzeln wurde noch tiefer, und sie fügte mit einem (hoffnungslos verunglückten) Lächeln hinzu: »Oder sie hat sich eingebildet, es zu wissen.«
    Lion sah sie eine geraume Weile nur durchdringend und mit undeutbarer Miene an, dann blickte er auf noch seltsamere Art auf seinen verletzten Daumen und sagte: »Und wenn sie es gewusst hat?«
    »Fängst du jetzt auch noch an?«, fragte Pia.
    »Deswegen?« Lion streckte demonstrativ den Daumen in die Höhe und schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wegen allem anderen, weißt du?«
    »Nein«, behauptete sie.
    »Ich weiß ja, wie verrückt das klingt, ausgerechnet aus meinem Mund ... aber hast du nicht auch das Gefühl, dass sie genau wusste, was passieren würde?
    »Dass die Elben uns in die Pfanne hauen?«
    »Dass sie sterben wird«, sagte Lion ruhig.
    Natürlich wusste sie, dass er recht hatte. Aber dieser Gedanke war so … erschreckend , dass sie ihm nicht einmal gestattete, vollends Gestalt anzunehmen. »Unsinn. Du hast recht: Irgendwie habe ich sie gemocht. Aber das ändert nichts daran, dass sie eine verrückte alte Kräuterhexe war, die wahrscheinlich nachts an einem Kreuzweg auf einem Bein herumgehüpft ist und den Mond angeheult hat.«
    Lion sah sie einfach nur weiter stumm an, und Pia begann sich augenblicklich schlecht zu fühlen, weil sie so über Ixchel sprach.
    Sie griff nun doch nach ihrer schmalen Hand, nahm sie zwischen ihre Finger und erschauerte, als sie spürte, wie schrecklichdünn und zerbrechlich sie war. Dann
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