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Elfenblut

Elfenblut

Titel: Elfenblut
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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unanständig. Pia war – wie viele ihrer Freunde und Verwandten – in den Favelas geboren und aufgewachsen, aber sie kannte auch genug, die auf der anderen Seite der Straße auf die Welt gekommen und irgendwie doch durch die immer größer werdenden Maschen des Netzes gefallen waren, mit dem sich die gutbürgerlichen Einwohner Rios vor den Massen der Armen und Ungebildeten schützten.
    »Hundertfünfzig Jahre?« Jesus ließ eine Kaugummiblase platzen und versuchte ein noch nachdenklicheres Gesicht zu machen.
    Es sah ziemlich dämlich aus, fand Pia. Außerdem hatte sie im allerersten Moment Mühe, seinen Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen. Erst dann wurde ihr klar, dass er auf ihre eigene Bemerkung von gerade anspielte. Entweder, dachte sie, sie hatte nicht annähernd so lange über den Sinn des Lebens, die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die Geschichte der Favelas im Besonderen nachgedacht, wie sie geglaubt hatte, oder ihre Bemerkung hatte so lange gebraucht, um an die kümmerlichen Reste von Jesus’ Intellekt zu dringen.
    Wahrscheinlich Letzteres.
    Jesus sah sie fragend an, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Fingernagel am Kopf und wartete vergeblich auf irgendeine Reaktion, bevor er schließlich fortfuhr: »Ist die Stadt überhaupt schon so alt?«
    Die ehrliche Antwort wäre gewesen: Ich habe nicht die geringste Ahnung , aber selbstverständlich hätte sie das nie zugegeben. Sie nickte und machte das gewichtigste Gesicht, das sie zustande brachte.
    »Vielleicht«, behauptete sie. »Aber niemand weiß genau, wie alt wirklich.« Das war glatt gelogen, wie sie sehr wohl wusste, hinderte sie jedoch nicht daran, auch noch hinzuzufügen: »Und niemand weiß, was zuerst da war: die Stadt oder die Favelas.« Was vermutlich genauso falsch war. Aber es klang gut.
    Jesus zeigte sich jedenfalls gebührend beeindruckt, schüttelte nach einer weiteren Sekunde trotzdem den Kopf und deutete in den Himmel hinauf. »Das hat sich geändert«, sagte er.
    Womit er natürlich ebenfalls recht hatte. Trotzdem sah Pia ihn nur beinahe finster an und dachte auch gar nicht daran, in die Richtung zu blicken, in die sein ausgestreckter Zeigefinger wies. Obwohl der Tag fast zu Ende war, hatte die Sonne noch viel Kraft, und sie hatte wenig Lust, sich die Augen zu verblitzen … und noch weniger Lust, direkt ins Kameraobjektiv einer Drohne zu lächeln. Schon vor einer geraumen Weile war herausgekommen, dass die meisten davon nichts als billige Attrappen und nur allerhöchstens jede zehnte tatsächlich mit einer Kamera bestückt war (von denen wiederum allerhöchstens die Hälfte auch wirklich funktionierte. Rios Stadtväter gingen zwar mit der Zeit und waren mächtig stolz auf ihr Hightech-Spielzeug, das ihnen helfen sollte, die Straßen unserer schönen Stadt noch sicherer zu machen, aber sie waren auch mindestens genauso geizig und hatten irgendeinen ostasiatischen Schrott gekauft, der vorn und hinten nicht funktionierte), aber sie legte nun wirklich keinen Wert darauf, ihr Konterfei in irgendeiner elektronischen Datei der Polizeibehörde verewigt zu wissen.
    Pia verscheuchte sowohl diesen wie auch etliche andere, womöglich noch unangenehmere Gedanken und machte eine auffordernde Geste zu den Baggern hin. Es wurde Zeit. Sie hatte nicht auf die Uhr gesehen (was auch daran lag, dass sie keine besaß), aber das war ohnehin nicht nötig. Nebst einigen anderen nützlichen Talenten verfügte sie über die Fähigkeit, stets beinahe auf die Minute genau sagen zu können, wie spät es war. Im Augenblick wartete sie darauf, dass der Vorarbeiter dort drüben seine Leute in den Feierabend schickte und seine letzte Runde über die Baustelle drehte, um sich davon zu überzeugen, dass alles seine Ordnung hatte, und alles kostbare Werkzeug entweder sicher weggeschlossen oder in einem Betonkübel untergebracht war, den er später an einem Drahtseil zwanzig Meter in die Höhe hieven würde; eine Vorsichtsmaßnahme, die so alt war wie die Geschichte der Baustellen, Kräne und Diebe und die noch nie wirklich funktioniert hatte – was unzählige Generationen von Bauarbeitern natürlich nicht daran gehindert hatte, sie zu praktizieren, und ebenso viele Generationen von Dieben nicht, sie auszunützen.
    Pia interessierte sie nicht. Ebenso wenig wie jenes Werkzeug, das der Polier in ein paar Minuten in luftige Höhen befördern würde … auch wenn das Zeug zweifellos einen gewissen Wert besaß. Vor ein paar Monaten noch hätte es sie
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