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Elfenblut

Elfenblut

Titel: Elfenblut
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zum ersten Mal meldete sich ihr schlechtes Gewissen, und nicht zum ersten Mal brachte sie es mit einer ärgerlichen Anstrengung zum Schweigen.
    »Gefällt mir trotzdem nicht«, beharrte Jesus. »Vielleicht sollten wir es ja lassen. Wenigstens für heute.« Als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: »Wir können ja nächsten Donnerstag wiederkommen.«
    Jetzt war Pia ehrlich überrascht, wenn auch nur kurz. Dennoch schüttelte sie den Kopf. »Er hat keine Ahnung«, beharrte sie. »Warum sollte er uns warnen, wenn er weiß, was wir vorhaben?«
    Jesus nahm den Hut ab und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das stoppelige Haar, dann schüttelte er noch einmal den Kopf, was ungewöhnlich genug war. Eigentlich konnte Pia sich nicht erinnern, dass er ihr jemals mehr als einmal widersprochen hatte. Vielleicht wäre sie wirklich gut beraten, diesmal auf ihn zu hören.
    »Nein«, sagte sie, widerstrebend und mit dem unguten Gefühl, einen schweren Fehler zu machen.
    Jesus setzte seinen Hut wieder auf und sah mit steinernem Gesicht zur Baustelle hin.
    Über ihnen summte die Drohne, zitterte plötzlich sacht, wie von einer Windböe getroffen, die es gar nicht gab, und kletterte dann ein Stück in die Höhe. Gleichzeitig glitt sie weiter auf die Straße hinaus und verharrte dann wie unschlüssig einen Moment auf der Stelle, bevor sie plötzlich beschleunigte und sich der Baustelle näherte, wo sie wieder anhielt. Zwei oder drei behelmte Köpfe hoben sich, aber die Männer verloren das Interesse an dem mechanischen Spion rasch wieder. Pia fand ihre Reaktion gleichermaßen verständlich wie irritierend. Als die Stadtverwaltung die Überwachungsdrohnen vor einem halben Jahr mit großem Pomp und Pressegewitter eingeführt hatte, war ein Aufschrei der Empörung durch ganz Rio de Janeiro gegangen, das komplette Programm, von zynischen Kommentaren im Frühstücksfernsehen bis hin zu aufgebrachten Menschenansammlungen mit Plakaten auf der Straße, und zumindest ein paar Tage hatte es tatsächlich so ausgesehen, als hätte die Obrigkeit den Bogen endgültig überspannt.
    Jetzt schien sich niemand mehr für die eklatante Missachtung der Privatsphäre zu interessieren. Die wenigen Arbeiter, die sich noch auf der Baustelle befanden, gingen unverändert ihren Tätigkeiten nach und sahen nicht einmal mehr auf, als sich der fliegende Teller senkte und dann kaum fünf oder sechs Meter über ihren Köpfen erneut zum Stillstand kam. So viel zu gerechter Empörung und dem Zorn der Volksseele, dachte sie spöttisch.
    Pia wollte gerade wieder wegsehen, als ihr eine Bewegung ein gutes Stück über der Drohne auffiel: ein winziger Punkt, der näher kam und sich gleichzeitig teilte. Sie runzelte die Stirn und sah genauer hin. Es waren zwei Vögel, schwarz und ziemlich groß, das konnte sie trotz der enormen Entfernung erkennen, und sie verhielten sich … ungewöhnlich. Sie konnte nicht einmal genau sagen, was sie an ihrem Verhalten so irritierte, doch es war da, und aus dem Gefühl von Verwirrung wurde plötzlich ein sachtes, aber nagendes Unbehagen. Pia erkannte die Vögel jetzt, was es nicht besser machte, sondern ihrer Verwirrung eher noch neue Nahrung gab. Es waren Raben.
    Raben? Hier? Mitten in der Stadt? Das war wirklich seltsam.
    »Das gefällt mir nicht«, sagte Jesus noch einmal.
    »Die Raben?«
    »Dieses Scheißding.« Jesus deutete auf die Drohne und runzelte wie beiläufig die Stirn; als hätte er die beiden schwarzen Vögel überhaupt erst in diesem Moment bemerkt und versuche sich darüber klar zu werden, ob ihr Auftauchen irgendetwas bedeutete, und wenn ja, was. »Vielleicht wissen sie Bescheid.«
    Pia hätte es sich leicht machen können. Ein einziges entschiedenes Wort hätte gereicht, um Jesus zum Schweigen zu bringen, ganz egal, ob seine Befürchtungen nun ausgeräumt waren oder nicht. Aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er zwar seine liebe Mühe hatte, zwei und zwei zusammenzuzählen, dafür aber über die feinen Instinkte eines Raubtieres verfügte. Er konnte Gefahr wittern. Und er irrte sich selten.
    Manchmal aber eben doch.
    »Wir warten einfach eine Weile ab«, schlug sie vor, »und entscheiden dann. Einverstanden?«
    Jesus nickte. Widerwillig.
    »He, ich meine das ernst«, sagte Pia. »Wir bleiben einfach hier sitzen und sehen, was passiert, und wenn du dann immer noch das Gefühl hast, dass irgendwas nicht stimmt, dann gehen wir nach Hause und machen uns einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher. Du
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