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Elfenblut

Elfenblut

Titel: Elfenblut
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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deutlich abgenommen hatte. Noch allerhöchstens zehn Minuten, und der Betonkübel würde in die Höhe entschweben, und kurz darauf würde der Vorarbeiter als Letzter die Baustelle verlassen und das Tor mit einem Vorhängeschloss sichern, das älter war als Jesus und sie zusammen und nicht einmal ein Kind aufhalten konnte.
    »Und du bist sicher, dass sie kommen?«, fragte Jesus.
    Pia nippte an ihrem Bier und stellte die Flasche mit leicht angewidertem Gesicht auf den Tisch zurück. Das Zeug war lauwarm und hatte nicht nur die Farbe von Pferdepisse, sondern schmeckte auch so. Gut, dass sie kein Trinkgeld gegeben hatte.
    »Sie kommen immer nach einer Woche und einem Tag«, antwortete sie. »Das vorletzte Mal waren sie am Montag vor zwei Wochen hier. Das letzte Mal am vergangenen Dienstag. Und heute ist Mittwoch.«
    Jesus nippte nun seinerseits am Bier und legte angestrengt die Stirn in Falten, um diesem komplizierten Gedankengang zu folgen. Pia hätte ihre Beweiskette ohne Mühe noch zwei oder drei weitere Wochen in die Vergangenheit zurück fortsetzen können – so lange beobachtete sie die Baustelle und den toten Briefkasten jetzt schon –, aber sie sparte sich die Mühe. Wozu auch? Die simple Wahrheit war: Sie wusste, dass der Kurier kommen würde.
    Jesus nuckelte weiter an seinem Bier – Pia entging keineswegs, dass er nur einen winzigen Schluck genommen hatte, kaum genug, um seine Lippen zu benetzen –, sah nach oben und machte ein demonstrativ finsteres Gesicht, und diesmal tat sie ihm den Gefallen, ebenfalls den Kopf in den Nacken zu legen und in die lodernde rote Glut des beginnenden Sonnenuntergangs zu blinzeln.
    Jesus hatte keineswegs den malerischen Sonnenuntergang bewundert. Die Drohne war noch da, ein flacher Diskus mit Rändern, die sich scharf wie mit einem Skalpell gezogen gegen das rote Licht des Abendhimmels abhoben, reglos in zehn oder zwölf Metern über ihnen in der Luft schwebend. Je nachdem, wie der Wind stand, konnte man das leise Summen des Rotors hören, der das fliegende Spionageauge in der Schwebe hielt, und im Zentrum des schwarzen Ovals blinkte ein winziges rotes Licht, das die Aufnahmebereitschaft der Kamera anzeigte. Ein beeindruckender Anblick, auch ein bisschen einschüchternd (genau das sollte er sein), aber Pia wusste es besser. Im Grunde war dieses technische Schreckgespenst nicht mehr als ein fliegender Ventilator, der in billiges Plastik gehüllt und mit einer Kameraattrappe ausgestattet worden war. Ein Fake . Die Zeitungen behaupteten, die Kriminalitätsrate auf den Straßen wäre seit Einführung der Drohnen um mehr als zwanzig Prozent zurückgegangen, doch Pia bezweifelte das. Und selbst wenn: Die Zauberworte steckten in dieser Behauptung ja schon drin. Auf den Straßen. Glaubten diese Dummköpfe tatsächlich, dass all die bösen Jungs und Mädchen schlagartig ehrlich geworden waren, nur weil sie Angst hatten, von einer fliegenden Kamera beobachtet zu werden?
    Pia verlagerte ihre Aufmerksamkeit von der summenden Plastikscheibe weg, bedachte den ganz besonders bösen Jungen an ihrem Tisch mit einem nachdenklichen Blick und kam zu dem Schluss: nein. Ganz bestimmt nicht.
    Jesus musste ihren Blick bemerkt – und anscheinend falsch gedeutet – haben, denn er starrte sie plötzlich ganz besonders finster an, und Pia zerbrach sich hastig den Kopf nach einer flapsigen Bemerkung, um die Situation irgendwie zu entspannen. Erst dann bemerkte sie den Schatten, der sich zwischen ihnen auf die zerschrammte Resopalplatte des Tisches legte, und damit auch ihren Irrtum.
    Sie wusste, wer es war, noch bevor sie aufblickte; ein weiteres Talent, das ihr – wenn auch nur manchmal – zur Verfügung stand. Und auf das sie in diesem Moment auch liebend gerne verzichtet hätte.
    Ebenso wie auf den Kerl, der den Schatten warf.
    »Na, wenn das keine Überraschung ist«, griente Comandante Hernandez. »Da dreht man, nichts Böses ahnend, seine Runden, und wen trifft man? Eine gute alte Freundin, die man schon lange nicht mehr gesehen hat.«
    Pia sagte gar nichts dazu – was vermutlich die einzig mögliche Reaktion war, die Situation nicht sofort eskalieren zu lassen –, und zu ihrer Erleichterung war auch Jesus klug genug, die Klappe zu halten und den Comandante nur finster anzustarren … was Hernandez sichtlich amüsierte. Er strahlte Jesus mit seinen perfekt gebleichten Pferdezähnen an und schnippte mit den Fingern, und Pia wäre nicht weiter überrascht gewesen, wenn wie aus dem Nichts ein
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