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Elfenblut

Elfenblut

Titel: Elfenblut
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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entscheidest.«
    Jesus sagte auch dazu nichts, sondern wirkte eher noch unzufriedener, protestierte nun aber nicht mehr, sondern nippte wieder an seinem Bier. Sein Anblick bereitete Pia plötzlich fast Unbehagen, denn sie wusste nur zu gut, warum er nicht noch einmal lauter protestierte. Gewiss nicht, weil sie ihn überzeugt hatte. Fast schon ein bisschen schuldbewusst wandte sie den Blick ab und sah wieder zur Baustelle hin. Die Anzahl der Schutzhelme hatte noch einmal abgenommen – drei blaue und ein gelber sowie ein schwarzer Haarschopf, dessen Besitzer sich anscheinend nicht darum scherte, was die Gewerkschaft verlangte, und auch keine Angst hatte, dass ihm der Himmel auf den Kopf fiel – und sie hatte den entscheidenden Moment verpasst: Das gezahnte Eisenmaul des größten Baggers bewegte sich langsam in die Höhe und zog dabei ein kurzes Drahtseil mit sich, an dem ein rostiger Eisenkübel pendelte. Die Drohne hatte weiter an Höhe verloren, berührte fast die Baggerschaufel und stieg dann wieder nach oben, um schließlich leicht wackelig davonzufliegen. Wo waren die beiden Raben?
    Pia suchte einen Moment aufmerksam nach ihnen, ohne sie zu entdecken, kam zu dem Schluss, ihren Abflug wohl auch irgendwie verpasst zu haben, und registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Der Wirt kam zurück und hatte zwei weitere Flaschen Bier in der Hand. Pia schüttelte den Kopf, als er sie auf den Tisch stellen wollte.
    »Bringen Sie uns die Sorte, die der Comandante trinkt«, sagte sie.
    Der Fettsack machte ein beleidigtes Gesicht, trollte sich und kehrte nach einem Moment mit zwei anderen (kalten) Flaschen zurück, und er wartete auch nicht darauf, bezahlt zu werden; so wenig, wie er von Hernandez Geld genommen hatte. Pia fragte sich, ob es nur vorauseilender Gehorsam war, weil sie mit Hernandez gesprochen hatten, oder ob der Comandante ihm vielleicht entsprechende Anweisungen gegeben hatte. Und was eigentlich schlimmer war.
    Wie erwartet begann sich die Cantina nun rasch zu füllen. Niemand tat es ihnen gleich und kam heraus auf die Straße, aber aus den umliegenden Geschäften und Werkstätten tauchten die ersten Gäste auf, um sich ein Feierabendbier zu gönnen, und dazu zwei oder drei Schutzhelme von der Baustelle. Pia verpasste auch den Moment, in dem der Vorarbeiter die Baustelle verließ und das Tor hinter sich abschloss, aber das machte nichts. Hinter dem einzigen Fenster der kleinen Bretterbude, die sich zwischen achtlos abgestellten Fahrzeugen, Schuttcontainern und Kübeln voller Schaufeln, Hacken und anderen Werkzeugen verbarg, tauchte ein blassgelber Schimmer auf, den sie bei den herrschenden Lichtverhältnissen eigentlich gar nicht sehen konnte. Aber sie wusste, dass er da war. Alles war genau so, wie es sein sollte. In einer halben Stunde würde es endgültig dunkel und das Licht der altmodischen Petroleumlampe deutlicher werden, eine weitere halbe Stunde darauf – nachdem er seine erste Runde gedreht hatte – würde sich der siebzig Jahre alte Nachtwächter aufs Ohr hauen und bis Mitternacht durchschlafen wie ein Baby.
    Alles war, wie es sein sollte.
    Wieso hatte sie dann nur das Gefühl, dass nichts so war, wie es sein sollte?

II
    D ie Sonne war auf die Sekunde pünktlich untergegangen, und mit der Dunkelheit war Wind aufgekommen, der Pia gehörig auf die Nerven ging.
    Er war warm genug, um sich wie eine sanft streichelnde Hand auf dem Gesicht anzufühlen, und es war nicht der typische Geruch der Favelas, den er mit sich trug, der sie so gestört hätte: eine schwer in Worte zu fassende Mischung aus rußenden Brikett- und Holzkohlefeuern, moderndem Wasser und faulendem Holz, aus zu vielen Menschen auf zu wenig Raum, die sich zu selten wuschen, aus Schwarzbrennereien und Benzin und den tausend anderen Aromen, die den typischen Geruch der Favelas ausmachten (mancher hätte ihn als den Gestank einer bewohnten Müllkippe bezeichnet; aber der Letzte, der das laut in ihrer Hörweite getan hatte, hatte Bekanntschaft mit Jesus’ Fäusten gemacht), oder die Ahnung von Kälte, die er von den verschneiten Berggipfeln im Westen mit sich brachte. All das kannte und liebte Pia, denn es war einfach Teil der letzten zwanzig (und somit beinahe aller) Jahre ihres Lebens. Sie nahm es nicht einmal mehr wirklich zur Kenntnis.
    Was sie nervös machte, das waren die Geräusche. Der Wind wehte nicht beständig – und schon gar nicht beständig aus einer Richtung –, sondern hüpfte ununterbrochen hin und her, brach
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