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Elantris

Elantris

Titel: Elantris
Autoren: Brandon Sanderson
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ein paar der Stadtbewohner zu erspähen. Jetzt konnte er sie zudem hören. Etwa ein Dutzend Elantrier lagen auf dem stinkenden Kopfsteinpflaster des Platzes verstreut. Ohne sich darum zu kümmern oder ohne es zu merken, saßen manche in tiefen dunklen Pfützen, die noch von den nächtlichen Regenfällen übrig geblieben waren. Und sie stöhnten. Die meisten taten dies auf eine leise Art, indem sie etwas vor sich hin murmelten oder vor Schmerz, der keine sichtbare Ursache zu haben schien, wimmerten. Eine Frau am anderen Ende des Platzes schrie jedoch und gab Laute von sich, die heftige Qualen erahnen ließen. Einen Augenblick später verstummte sie, da ihr entweder die Luft oder die Kraft ausgegangen war.
Die meisten trugen Lumpen - dunkle, locker sitzende Kleidungsstücke, die genauso schmutzig waren wie die Straßen. Als Raoden jedoch genauer hinsah, erkannte er, was es war. Er blickte an seinen eigenen weißen Totengewändern hinab. Die Sachen waren lang und wallend, wie Bänder, die man zu einem losen Gewand zusammengenäht hatte. Der Leinenstoff an seinen Armen und Beinen war bereits voller Dreck, weil er damit das Stadttor und die Steinpfeiler berührt hatte. Raoden beschlich der Verdacht, dass sich seine Kleidung schon bald nicht mehr von der Tracht der anderen Elantrier unterscheiden ließe.
Das hier wird aus mir werden, dachte Raoden. Es hat bereits angefangen. In ein paar Wochen werde ich nur noch eine mutlose Hülle sein, ein Leichnam, der in der Ecke vor sich hin winselt.
Etwas auf der anderen Seite des Platzes bewegte sich und riss Raoden aus seinem Selbstmitleid. Ein paar Elantrier kauerten ihm gegenüber in einem Torbogen, der im Schatten lag. Ihre Umrisse verrieten ihm nicht viel, doch die Leute schienen auf etwas zu warten. Er konnte spüren, wie ihre Blicke auf ihm ruhten.
Um seine Augen vor dem Sonnenlicht abzuschirmen, hob Raoden einen Arm, was ihm erst wieder den kleinen Strohkorb ins Gedächtnis rief, den er in der Hand hielt. Darin befand sich das rituelle Korathiopfer, das man den Toten ins nächste Leben mitgab - oder, in diesem Falle, nach Elantris. In dem Korb waren ein Brotlaib, ein wenig kümmerliches Gemüse, eine Handvoll Getreidekörner und ein kleiner Schlauch Wein. Gaben für tatsächlich Verstorbene waren viel opulenter, doch selbst einem Opfer der Shaod musste man zumindest etwas zugestehen.
Wieder sah Raoden zu den Gestalten in dem Torbogen, und ihm fielen Gerüchte ein, die er draußen aufgeschnappt hatte. Geschichten, in denen es um elantrische Gewalttaten ging. Noch hatten sich die dunklen Gestalten nicht von der Stelle gerührt, aber es machte ihn nervös, wie sie ihn musterten.
Raoden holte tief Luft und trat dann zur Seite. Er bewegte sich die Stadtmauer entlang auf die Ostseite des Platzes zu. Die Gestalten schienen ihn noch immer zu beobachten, doch sie verfolgten ihn nicht. Im nächsten Moment verschwand der Torbogen aus seinem Blickfeld, und nach einer weiteren Sekunde hatte er sicher eine der Seitenstraßen betreten.
Raoden atmete aus. Er hatte das Gefühl, entkommen zu sein, obgleich er nicht wusste, wem oder was. Kurze Zeit später war er sich sicher, dass ihn niemand verfolgte, und er kam sich töricht vor, derart beunruhigt gewesen zu sein. Bisher hatte er noch nichts gesehen, was die Gerüchte über Elantris beseitigt hätte. Kopfschüttelnd ging Raoden weiter.
Der Gestank war schier überwältigend. Der allgegenwärtige schleimige Dreck hatte einen fauligen Modergeruch an sich, wie Schimmelpilz. Der Geruch machte Raoden so sehr zu schaffen, dass er beinahe auf die knorrige Gestalt eines alten Mannes gestiegen wäre, der an einer Häuserwand kauerte. Der Mann ächzte erbärmlich, einen dünnen Arm in die Höhe gestreckt. Als Raoden hinabblickte, überlief ihn auf einmal ein eiskalter Schauder. Der »alte Mann« war höchstens sechzehn Jahre alt! Die mit Ruß bedeckte Haut des Wesens war dunkel und voller Flecken, doch das Gesicht war das eines Kindes, nicht eines Mannes. Unwillkürlich wich Raoden einen Schritt zurück.
Kraft der Verzweiflung streckte der Junge den Arm nach vorn, als sei ihm klar geworden, dass die Gelegenheit gleich vorüber wäre. »Essen?«, murmelte er. In seinem Mund waren nur noch die Hälfte seiner Zähne übrig. »Bitte?«
Dann fiel sein Arm wieder nach unten, völlig verausgabt, und sein Körper sank kraftlos gegen die kalte Steinmauer. Seine Augen beobachteten Raoden allerdings weiterhin. Kummervolle, gequälte Augen. Früher hatte Raoden
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