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Eiszeit

Eiszeit

Titel: Eiszeit
Autoren: Dean R. Koontz
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der kurzen Dämmerung und der ständigen Bewölkung düster und trüb wirkten. Im Augenblick war die Sicht gut, da der Tag sich jenem Zeitpunkt genähert hatte, da ein verschwommener, wolkengefilterter Halbmond aus Sonnenlicht den Horizont heller färbte. Doch die Sonne hatte in dieser leeren Landschaft wenig zu erhellen. Die einzigen Erhebungen waren die zerklüfteten, vom Druck aufgeworfenen Kämme und Hunderte von Eisplatten — einige nur so groß wie ein Mensch, andere größer als Häuser —, die sich aus dem Feld erhoben hatten und wie riesige Grabsteine auf der Unterseite standen.
    Peter Johnson stapfte mit Harry und Claude zu zwei Schneemobilen, die eigens für den Einsatz am Nordpol umgebaut worden waren. »Der Schacht ist achtundzwanzig Meter tief«, sagte er. »Noch eine Verlängerung für die Ladung, und wir sind fertig.«
    »Gott sei Dank!« Claude Jobert zitterte, als würde ihm sein Thermalanzug nicht den geringsten Schutz vor der Kälte bieten. Trotz des transparenten Vaselinefilms, der die freiliegenden Teile seines Gesichts vor Erfrierungen schützte, war er bleich und abgespannt. »Dann schaffen wir es heute abend noch zum Lager zurück. Stellt euch das vor! Seit wir aufgebrochen sind, war mir keine Minute mehr warm.«
    Normalerweise beklagte Claude sich nicht. Er war ein heiterer, lebhafter, kleingewachsener Mann. Auf den ersten Blick wirkte er zerbrechlich, doch dieser Eindruck täuschte. Mit einsfünfundsechzig und fünfundsechzig Kilo war er schlank, drahtig und hart. Er hatte eine weiße Haarmähne, die jetzt unter seiner Kapuze steckte, ein Gesicht, das von einem Leben in extremen Klimata gegerbt und ledrig geworden war, und hellblaue Augen, die so klar wie die eines Kindes waren. Harry hatte in diesen Augen nie Haß oder Zorn gesehen. Bis gestern hatte er auch nie Selbstmitleid in ihnen gesehen, nicht einmal vor drei Jahren, als Claude seine Frau, Colette, bei einer plötzlichen, sinnlosen Gewalttat verloren hatte; er war von Trauer verzehrt worden, hatte sich aber nie im Selbstmitleid gesuhlt.
    Doch seitdem sie die Behaglichkeit der Station Edgeway verlassen hatten, war Claude weder heiter noch lebhaft gewesen und hatte sich ständig über die Kälte beschwert. Mit neunundfünfzig Jahren war er das älteste Mitglied der Expedition, achtzehn Jahre älter als Harry Carpenter, und das war die äußerste Grenze für jemanden, der in diesen brutalen Breitengraden arbeitete.
    Obwohl er ein hervorragender Arktisgeologe war, der sich auf die Dynamik und Bewegung von Eisformationen spezialisiert hatte, würde die derzeitige Expedition seine letzte Reise zu einem Pol sein. In Zukunft würde er seine Forschungen weit entfernt von den harten Bedingungen der Eisdecke in Laboratorien und an Computern betreiben.
    Harry fragte sich, ob Jobert weniger die bittere Kälte als das Wissen störte, daß die Arbeit, die er schätzte, zu anstrengend für ihn geworden war. Eines Tages würde Harry derselben Wahrheit ins Auge sehen müssen, und er war keineswegs überzeugt, daß er dann einen würdevollen Abschied nehmen konnte. Die großen, unberührten Einöden der Arktis und Antarktis faszinierten ihn: Die Macht des extremen Wetters, das Geheimnis, das die weißen, geometrischen Landschaften einhüllte und in den purpurfarbenen Schatten einer jeden anscheinend unergründlichen Gletscherspalte lag, das Schauspiel klarer Nächte, in denen das Nordlicht den Himmel mit leuchtenden Bändern aus Licht in edelsteinähnlichen Farben überzog, und der gewaltige Sternenhimmel, der sichtbar wurde, sobald die Vorhänge des Nordlichts sich zurückzogen.
    In gewisser Hinsicht war er noch immer der Junge, der ohne Brüder, Schwestern oder Spielgefährten auf einer einsamen Farm in Indiana aufgewachsen war: der einsame Knabe, der sich vom Leben erdrückt fühlte, in das er hineingeboren war, der davon tagträumte, zu fernen Orten zu reisen und all die exotischen Wunder der Welt zu sehen, der niemals an eine bestimmte Stelle der Erde gefesselt sein wollte und der sich nach Abenteuern sehnte. Er war jetzt erwachsen und wußte, daß Abenteuer harte A rbeit waren. Doch gelegentlich wurde der Junge in ihm abrupt vom Staunen überwältigt, hielt plötzlich in seiner Beschäftigung inne, drehte sich langsam einmal im Kreis, um die betörend weiße Welt um ihn herum zu betrachten, und dachte: Ach du grüne Neune, ich bin wirklich hier, ich habe es von Indiana bis zum Ende der Erde, bis auf die Spitze der Welt geschafft!
    »Es
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