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Eiswind - Gladow, S: Eiswind

Titel: Eiswind - Gladow, S: Eiswind
Autoren: Sandra Gladow
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hinunterlief und sich mit dem Wasser verband, vorauszusehen. Es war, als würde er gegen sich selbst wetten.
    Erst waren es nur kleine Schnitte gewesen, und er hatte jeden Blutstropfen herauspressen müssen, aber dann war er mutiger geworden und hatte den Rasierer so gut es eben ging immer wieder in das Fleisch gepresst, zunächst zaghaft und dann immer heftiger. Am besten hatte es funktioniert, wenn er ein Stück Haut zwischen dem Mittelfinger und dem Daumen der rechten Hand zusammengedrückt hatte, während er mit der linken den Rasierer über die entstandene Hautfalte schaben ließ.
    Es war nicht ganz einfach, und er hatte sich beim Abrutschen ein paar Mal seine Fingerkuppen verletzt,
aber es ging. Nach einer gewissen Zeit war er an die Grenzen des Machbaren gestoßen, und was er tat, verlor seinen Reiz.
    SIE hatten derweil ohnehin schon begonnen, unten herumzubrüllen, dass er »verdammt noch mal endlich frühstücken sollte«. Eigentlich hatten sie immer wegen irgendetwas geschrien.
    »Komme gleich«, hatte er zurückgerufen, während er aus der Wanne stieg.
    Dann war ihm das Nageletui eingefallen, das SIE im Badezimmerschrank aufbewahrten, und er entschied sich nach kurzem Zögern, es zu holen. Das Blut hatte ohnehin schon ein paar Spuren auf der Badematte zurückgelassen, obwohl er sich bemüht hatte, die Tropfen mit Klopapier aufzufangen. Deshalb war sowieso klar gewesen, dass es wieder Ärger geben würde, weshalb er die Tür abschloss.
    Er hatte sich dann die Schere geholt und war wieder in die Wanne gestiegen, weil er anfing zu frieren.
    Es war toll, dass das Wasser von dem bisschen Blut schon so rot war. Es sah aus, als hätte man die ersten Tropfen eines Kirschsirups in ein volles Glas Wasser gegeben. Er goss heißes Wasser nach und hielt den Seifenspender mit der Öffnung nach unten direkt unter den Wasserstrahl, um sauberen Schaum zu produzieren. Es brannte ein bisschen, aber die Wirkung war gigantisch – weiße Wolken auf rotem Wasser! Mit der Schere ließ es sich ganz gut arbeiten, es tat zwar ein bisschen mehr weh, was ihn aber jetzt nicht mehr störte. Sein Ziel war es, einen roten Stern in den Schaum
zu malen, was nicht einfach war, weil dieser sich so schnell verflüchtigte. Immer wieder verlor sich das begehrte Muster, denn das Wasser trieb die roten Wolken auseinander.
    Er wurde von einem verzweifelten Ehrgeiz angetrieben, die wohl einzige Eigenschaft, die er mit IHNEN gemeinsam hatte. Immer wilder und hektischer bohrte er die Schere in seinen Arm und die Beine, bis Blut hervorquoll, mit dem er den Schaum verzieren konnte. Er stieß die Schere in seine Schenkel und verkantete sie, rührte darin und gewann dennoch nicht schnell genug Blut. Er war unsagbar wütend, und ihm waren die Tränen in die Augen geschossen, als es ihm wieder und wieder misslang, das begehrte Muster zu zeichnen. In einer Zeit, die ihm endlos schien, hatte er immer und immer wieder Wasser und Schaum nachgegossen, um das Bild, das ihm vorschwebte, endlich zu vollenden, und dann kamen SIE und zerstörten alles, natürlich gerade, als er es fast geschafft hatte!
    Als sie an diesem Abend aus dem Krankenhaus zurückkamen, hatte er auf der Treppe im Flur gesessen und ihr Gespräch in der Küche belauscht. Man hatte seine Arme und Beine bandagiert, und er war dabei, an den störenden Verbänden herumzunesteln, während er in die Dunkelheit horchte, um sich nicht auf die ihn jetzt durchzuckenden Schmerzen konzentrieren zu müssen.
    SIE hatten nicht im Geringsten begriffen, worum es ihm gegangen war. SIE faselten etwas von Selbstmord und Klinik und Anlagen der Eltern und davon, dass
SIE das nicht verdient hätten. »Wir hätten ihn nicht adoptieren sollen.«
    Der Satz brannte in ihm wie Feuer, denn obwohl er immer gewusst hatte, dass SIE insgeheim wünschten, er hätte nie existiert, hatte er SIE es bis dahin nie wirklich sagen hören.
    »Vielleicht hätten wir dann Ferdi nicht«, sagte ER am Küchentisch sitzend. »Vielleicht wärest du nie schwanger geworden, wenn wir uns nicht auf ihn konzentriert hätten.«
    Ferdi war das Einzige, was sein Leben rechtfertigte, das Einzige, für das SIE ihn nicht hassten. Es war das Beste, was SIE je über ihn gesagt hatten.
    »Bald werden wir uns sehen, Marilyn«, schrieb er. »Ich verspreche es. Jetzt verzeih, wenn ich Dich verlassen muss. In Gedanken bei Dir, Dein Jack.«

4. KAPITEL
    H ausnummer sechs«, sagte Hauptkommissar Braun und wies mit der Hand aus dem Beifahrerfenster auf ein
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