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Eiswind - Gladow, S: Eiswind

Titel: Eiswind - Gladow, S: Eiswind
Autoren: Sandra Gladow
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gebar, so viel wusste er. Man hatte ihn zur Adoption freigegeben, und dann kamen SIE. SIE hatten ihn adoptiert, weil es dieser Frau – er brachte es nicht über sich, sie als seine Adoptivmutter zu bezeichnen – über Jahre nicht gelungen war, schwanger zu werden. Die medizinischen Möglichkeiten ließen es damals noch nicht zu, die genauen Gründe zu analysieren. Jedenfalls glaubten SIE, kein eigenes Kind mehr bekommen zu können, und entschieden sich für ihn. Er war von Anfang an ein schrecklich schwieriger kleiner Junge gewesen, das hatten SIE bei jeder Gelegenheit betont. Er war schwächlich und dünn, aß schlecht und brüllte unentwegt. Wahrscheinlich hatte er den Schmerz herausgeschrieen,
den es ihm bereitete, das Drama seines Lebens vorauszusehen.
    Als er gerade erst zwei Monate alt war, wurden SIE doch noch schwanger. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten SIE begonnen, seine Existenz zu bedauern. Aber ihre gesellschaftliche Stellung und ihr zur Schau getragenes Verantwortungsgefühl versagten es ihnen selbstverständlich, ihn als unerfreuliche Episode ihres Bilderbuchlebens zu betrachten, ihn wie einen bösen Traum aus dem Gedächtnis zu streichen und irgendwo abzugeben. Nein, sie behielten ihn, ohne dabei zu vergessen, ihm mit jedem ihrer Blicke die Sinnlosigkeit und Minderwertigkeit seines Lebens vor Augen zu führen.
    Natürlich war ihr leiblicher Sohn perfekt. Ferdinand hatte, wie es hieß, nie grundlos geweint, sah als Kind aus wie der kleine Prinz und hatte ihnen nach eigenen Bekundungen ausschließlich Freude im Leben bereitet. Er war ein guter und beliebter Schüler, der begabteste Handballer der Schulmannschaft und später ein ehrgeiziger Student und begehrter Liebhaber.
    SIE betrachteten Ferdinand als ihr Ein und Alles. Er war der würdige Erbe ihres Anwesens in der Kaiserallee. SIE alle passten in diese protzige Straße in Travemünde, in der die Häuser nicht verkauft, sondern lediglich vererbt wurden. Dorthin, wo es auch heute noch nach dem Reichtum und der Macht der mittelalterlichen Städtehanse roch, die einst den Ost- und Nordseehandel dominiert hatte.
    Gott musste sich einen bitteren Scherz erlaubt haben,
als er sich entschieden hatte, ihn in dieser Familie groß werden zu lassen. Denn wer nicht wusste, dass er adoptiert war – was nur selten vorkam, da SIE keine Gelegenheit ausließen, es zu erwähnen -, der hielt ihn meistens für eine unglückliche Laune der Natur. Er gehörte zu ihnen wie ein inoperables, hässliches Krebsgeschwür, das man dulden musste, solange es einen nicht zugrunde richtete.
    Nicht nur Ferdinand, sondern auch SIE waren schön. SIE waren schlank, SIE waren sportlich, SIE waren erfolgreich. Er war nichts von alledem. Er hasste seine bläuliche Haut, die grotesk langen Arme und Beine, die an seinem viel zu dünnen Körper marionettenhaft herunterhingen, und vor allem seine gewaltige Nase, die ihm wie der Rest seines Gesichtes als vortrefflicher Nährboden für Akne schien. SIE hatten sich seiner immer geschämt.
    Er hatte sich oft gefragt, ob es auch irgendetwas gab, was sie an ihm gemocht oder wenigstens nicht verabscheut hatten. Ihm fiel nur eine einzige Situation ein, die er als Rechtfertigung seiner Existenz hätte auslegen können. Sie hatte sich ereignet, als er gerade zwölf gewesen war und sich am Morgen versehentlich mit der Rasierklinge seines Vaters geschnitten hatte. Der Nassrasierer seines Vaters war heruntergefallen, als er nach einer Seife vom Fenstersims über dem Badewannenrand gefischt hatte, und war ihm so unglücklich über das Bein geglitten, dass eine kleine Schnittwunde entstanden war. Er hatte keinen Schmerz verspürt, sondern nur fasziniert das kleine Rinnsal aus Wasser und Blut
bewundert, das, mit dem heißen Badewasser verbunden, ein bizarres Muster in den Schaum gezeichnet hatte, das ihm gefiel.
    Mit Mühe hatte er zunächst ein, zwei weitere Tropfen aus der Wunde herausgepresst und auf seinem Bein verschmiert. Es hatte ausgesehen wie Fingerfarbe. Er wusste nicht, warum – das hatte er nie gewusst, weshalb auch ihre ewigen Fragen so quälend für ihn gewesen waren -, aber er hatte irgendwann begonnen, den Rasierer auf dem Oberschenkel zu verkanten und die Haut einzuritzen. Es hatte nicht wehgetan, wenn er sich schnitt, solange er darauf achtete, dass keine Seife in die Wunden gelangte, weshalb er die Knie angezogen und ein wenig Wasser abgelassen hatte. Er versuchte, die Bahnen, in denen das Blut in kleinen Rinnsalen sein Bein
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