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Eisnacht

Eisnacht

Titel: Eisnacht
Autoren: Sandra Brown
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Besuche waren immer irgendwie peinlich. Wir kannten einander nicht. Ich war ein Fremder, mit dem das arme Kind ab und zu einen Nachmittag verbringen musste. Ich trat von links auf die Bühne, sagte meinen Text auf und ging rechts wieder ab, um für ein weiteres Jahr hinter den Kulissen zu verschwinden. Das war das Leben meiner Tochter, doch ich spielte darin nur eine Statistenrolle. Nach einigen Jahren hörte ich auch damit auf. Meine Besuche wurden immer seltener.«
    Er trat an ein anderes Cover und studierte es. »Ich war gerade am Amazonas, als ich die Nachricht bekam, dass sie vermisst wurde. Sie war spurlos verschwunden, man glaubte, dass sie entführt worden sei. Ich brauchte zwei Wochen, um in die Zivilisation zurückzukehren und in die Vereinigten Staaten zu fliegen.
    Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Man hatte mich aus reiner Höflichkeit benachrichtigt, mehr nicht. Paula traute ihren Augen nicht, als ich vor ihrer Tür in Nashville auftauchte, was allein eine Menge über mich und meine Prioritäten aussagt, nicht wahr? Aber statt sie zu trösten und alles zu tun, um die Situation für sie zu erleichtern, führte ich mich auf wie ein Berserker.
    Ich hatte die Frechheit, sie zu kritisieren, weil die beiden nicht länger in Cleary geblieben waren und nicht darauf bestanden hatten, dass man weiter nach Torrie suchte. Inzwischen war es Winter geworden. Es war nicht machbar, dass man den Berg weiterhin von Hunderten von Leuten durchkämmen ließ. Aber ich weigerte mich zu akzeptieren, dass wir nicht mehr tun konnten, als zu hoffen, dass Torrie eines Tages wieder auftauchen würde. Ich konnte mich nicht damit abfinden, ihr Gesicht mit einer Suchmeldung auf einem Milchkarton abgedruckt zu sehen.«
    Er drehte sich wieder um. »Lambert warf mich aus seinem Haus, und ich kann ihm deshalb keinen Vorwurf machen. Ich mietete mich in einem Hotel ein. Und in diesem unpersönlichen Raum, in dem mir nicht mehr gehörte als eine Reisetasche voller Anziehsachen, erkannte ich plötzlich, wie unendlich allein ich war.
    Paula und ihr Mann hatten einander, um sich Halt zu geben, um miteinander zu weinen, um sich aufrechtzuhalten. Ich hatte keinen Menschen, und das hatte ich ganz allein mir zuzuschreiben. Mir wurde bewusst, dass ich den einzigen Menschen auf der Welt, der mein Blut teilte, im Stich gelassen hatte. Damals wurde mir brutal vor Augen geführt, was für ein selbstsüchtiger Idiot ich war.
    Torrie aufzugeben war für mich kein Opfer gewesen. Das hatte ich mir damals eingeredet, aber es stimmte nicht. Ich hatte mich nicht in einer großartigen, selbstverleugnenden Geste zum Wohle meines Kindes aufgeopfert, sondern ausschließlich an mich selbst gedacht. Ich wollte damals nur reisen. Ich wollte die Freiheit haben, mein Zeug zu packen und loszuziehen, ohne auf eine Familie Rücksicht nehmen zu müssen. In jenem leeren Hotelzimmer sah ich mich erstmals so, wie ich wirklich war. Oder wie ich zumindest gewesen war. Jetzt war es Zeit zur Wiedergutmachung.
    In jener Nacht schwor ich mir herauszufinden, was Torrie zugestoßen war, oder zumindest alles dafür zu unternehmen. Um diese eine Verantwortung würde ich mich nicht drücken. Es war das Letzte, was ich je für mein Kind tun würde. Das Einzige, was ich je für mein Kind tun würde.« Inzwischen war seine Stimme rau und schwer.
    »Ich musste diesen Weg bis ans bittere Ende gehen, Lilly. Ich musste aus dem Krankenhausbett kriechen, aber ich war dabei, als die Männer von der Spurensicherung die Leichen bargen. Ich war bei Paula, als die Überreste unserer Tochter identifiziert wurden. Wir hielten einen Gedenkgottesdienst für Torrie und beerdigten sie in Nashville.«
    Er beendete seine Inaugenscheinnahme der Zeitschriftencover und sah sie an. Sein Blick war feucht. »Ich musste damit abschließen, bevor ich zu dir kommen konnte. Verstehst du das?«
    Sie nickte, zu bewegt, um etwas zu sagen.
    »Nachdem du das jetzt weißt, willst du vielleicht lieber nichts mit mir zu tun haben, aber ich hoffe, dass du es trotzdem tust.«
    »Glaubst du…?«
    »Was?«
    »Glaubst du, dass du an dem Tag, als wir mit den Kajaks auf dem Fluss waren, in mir die gleiche Art von Leere und Verlust gespürt hast, die du selbst empfunden hast? Ich hatte Amy verloren. Du Torrie. Dass du damals…«
    »Eine Seelenverwandtschaft gespürt habe?«
    »Etwas in der Art.«
    »Ganz bestimmt«, sagte er.
    »Oh.«
    »Warte, fragst du dich etwa, ob das der Grund war, weshalb ich mich damals zu dir
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