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Eiskalte Hand

Eiskalte Hand

Titel: Eiskalte Hand
Autoren: Claudia Muther
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das Siegel legten, begannen die Fingerspitzen zu kribbeln. Das Siegel zerfloss augenblicklich wie Wachs in der Sonne. Zwei zierliche Griffe kamen darunter zum Vorschein. Mit zitternden Fingern umschloss sie die Griffe und zog daran. Die Türen öffneten sich ohne das geringste Geräusch und gaben den Blick frei auf das Artefakt. Ein dunkelroter Edelstein ruhte auf einem kleinen goldenen Sockel und verströmte ein sonderbares Licht. Genauer konnte Mia es nicht beschreiben. Eigentlich war es kein richtiges Licht, eher flüssige Dunkelheit – und doch leuchtete es auf gespenstische Art und Weise. Fasziniert betrachtete sie den Stein. Ja, sie konnte ihren Blick gar nicht mehr von diesem wundervollen Etwas abwenden. „Der Blutstein.“, flüsterte Doran Zi ehrfurchtsvoll.
     
    Mia stand wie angewurzelt da. Ein Teil von ihr wollte sofort zugreifen, das Artefakt an sich nehmen und es aktivieren – wie auch immer das funktionieren würde. Doch ein anderer Teil ihrer selbst hielt sie zurück, signalisierte eine undefinierbare Skepsis. Wie zwei Kämpfer rangen diese Seiten miteinander in ihren Gedanken. Fast konnte sie sie bildhaft vor sich sehen. Immer wieder wogte es hin und her. Mal hatte der eine die Oberhand, mal der andere. Was sollte sie bloß tun?
     
    ‚ Da bist du ja.‘ , vernahm sie plötzlich eine fremde Stimme, tief und einschmeichelnd. Irritiert zuckte sie zusammen und schaute sich um. Doch da war weit und breit niemand. Nur Doran Zi. Und der alte Mann blickte sie immer noch mit großen Augen an. Sollte er die Stimme etwa gar nicht gehört haben? ‚Ich habe so lange gewartet, mein Kind.‘ , erklang die Stimme erneut. Und nun begriff Mia, dass die Worte nur in ihrem Kopf zu hören waren. ‚Wer bist du?‘ , dachte sie und formte dabei in Gedanken jedes einzelne Wort, jede Silbe präzise aus. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. ‚Ich bin die Kraft des Blutsteins, die Macht deiner Väter, dein Erbe. Wecke mich! Lass mich dir dienen! Lass uns eins werden!‘ Fast säuselnd waberte die Stimme durch ihren Kopf, drang überall ein – bis in die Tiefen ihres Gehirns. Wie mit geisterhaften Fingern griff sie nach ihr, lullte sie ein und zog sie immer mehr in ihren Bann. Langsam, ganz langsam streckte Mia die Hand aus, näherte sich Zentimeter um Zentimeter dem Blutstein. Sie wollte ihn, wollte eins mit ihm sein, wollte die Macht spüren. So verlockend!
     
    ‚Tu es nicht!‘ , fuhr da eine andere lautlose Stimme dazwischen. Überrascht hielt Mia inne. Diese Stimme klang irgendwie bekannt, fast schon vertraut. ‚Großvater?` ‚Ja, mein Kind.‘ , kam prompt die Antwort. ‚Lass dich nicht von dem Artefakt verführen. Es ist böse. ‘ Mia schrak zusammen. Doch schon folgte die Antwort des Artefakts. Offenbar konnte es den Großvater ebenfalls hören. ‚Und das sagt mein Schöpfer?‘ , säuselte es mit einem leicht sarkastischen Unterton, ‚Dein Blut steckt in mir. Das Blut des Hauses Lun. Es hat mich erst möglich gemacht. Ich bin nicht böse. Ich bin nicht gut. Ich bin einfach ich – und zugleich ein Teil von euch beiden.‘ Und an Mia gewandt fuhr es fort: ‚Ich kann dir große Macht verleihen. Hör nicht auf den alten Schwätzer. Der war schon immer ein Schwächling. Wir beide gehören zusammen. Wir sind eins. Spürst du es nicht auch?‘ Die Stimme des Artefakts weckte solch ein Verlangen in Mia. Und da war dann noch dieser Teil von ihr, der sich so unberechenbar gebärdete. Jener Teil, der in den letzten Wochen immer stärker zu Tage getreten war – der sie die Kontrolle hatte verlieren lassen. Er kochte und pochte in ihr, ließ ihr Herz rasen. ‚Greif dir endlich das Artefakt!‘ , schien er sie anzuflehen.
     
    Langsam, fast unmerklich schoben sich Mias Finger ein paar weitere Zentimeter nach vorne. ‚Nein!‘ , schrie die Stimme ihres Großvaters erneut, und in ihrem Kopf dröhnte es wie von einem Gong, ‚Du willst doch nicht werden wie dein Vater!‘ Unvermittelt und hart wie ein Hammerschlag trafen sie diese Worte. Sie erstarrte für einen kurzen Moment. Was wollte ihr Großvater damit sagen? Ihr Vater war doch ein großer, ein großartiger Mann. Ein Vorbild. ‚Aber…wieso?‘ , stammelte sie innerlich. Doch noch bevor ihr Großvater antworten konnte, fuhr das Artefakt dazwischen. ‚Du bist doch schon wie dein Vater. Genau wie er. Schau dich doch an. Du ähnelst ihm viel mehr, als du auch nur ahnst. Aber deine Macht ist noch größer. Du bist stärker. Das, was er nicht hat zu
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