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Eiskalt Wie Die Suende

Eiskalt Wie Die Suende

Titel: Eiskalt Wie Die Suende
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hatte dies zwei Gründe – erstens, um Präsident Grant zu kabeln, dass ich den Posten als Feldarzt von Botschafter Washburne antreten werde, und zweitens, um meine Überfahrt nach Frankreich zu buchen. Wie der Zufall es so wollte, gab es noch eine freie Kabine auf der Melita, die bereits morgen früh in See sticht. Ich werde hier schon vor Tagesanbruch aufbrechen müssen, wenn ich noch einige meiner Sachen von zu Hause holen und rechtzeitig zur Einschiffung an der Constitution Wharf sein will.
    Bis ich in Paris eintreffe, dürfte Frankreich sich aller Wahrscheinlichkeit nach schon mit Preußen im Krieg befinden. Meine Aufgaben sind bislang wenig klar umrissen. Sicher weiß ich nur, dass ich in Diensten des amerikanischen Botschafters stehen werde, der über meinen genauen Einsatz entscheiden wird. Da er aber ausdrücklich einen Arzt mit Kriegserfahrung angefordert hat und in Anbetracht seiner Parteinahme für die Franzosen, vermute ich, dass ich Napoleons Armee im Schlachtfeld als Arzt dienen soll. Ich habe mich auf ungewisse Zeit verpflichtet, zumal sich noch überhaupt nicht absehen lässt, wie lange die Kämpfe andauern werden. Es ist möglich, sogar sehr wahrscheinlich, dass ich einige Jahre fort sein werde.
    Du wirst Dich vielleicht fragen, warum ich mich für diesen Weg entschieden habe, statt die gewiss angenehmere Professur in Harvard anzunehmen. Wir beide sind in unserer Beziehung an einen Punkt gelangt, von dem aus wir nicht einfach weitergehen können wie bisher, von dem aus wir nicht wie gehabt gemeinsam einherschlendern können, ohne ein bestimmtes Ziel anzusteuern – zumindest keines, das wir auszusprechen wagten. Wiewohl mich diese Entwicklung betrübt, habe ich doch mir allein die Schuld daran zuzuschreiben. Unserer Freundschaft waren bestimmte Grenzen gesetzt, die Du in Deiner unendlichen Weisheit immer respektiert hast, und die ich, wie es nun einmal in meiner Natur liegt, schließlich überschritten habe.
    Seit ich Dich kenne, Nell, bin ich zu einem besseren Menschen geworden. Aber letzten Endes bin ich eben doch ein Mann, und ein maßlos egoistischer noch dazu, denn anders ließe sich nicht erklären, dass ich mich Dir trotz Deiner Zurückhaltung derart aufgedrängt habe, wie ich es vor meiner Abreise im Januar getan habe. Die Schuld daran lag ganz allein bei mir, doch den Preis, so fürchte ich, müssen wir beide zahlen.
    Als ich Dich um diesen Kuss bat, hatte ich Dir versprochen, dass wir danach weitermachen würden wie bisher. Wäre ich ein besserer, ein stärkerer Mann, könnte ich vielleicht einfach die Schultern straffen, das Kinn recken und tun, als wäre nichts gewesen. Doch ich glaube, wir wissen beide nur zu gut, dass es mit meiner Standhaftigkeit nicht weit her ist. Würde ich nicht Erlösung von meinem Schmerz gesucht haben – von jeglichem Leid, nicht nur dem körperlichen Schmerz –, statt ihn mit Fassung zu tragen und auszuhalten, hätte ich gewiss nicht all jene verlorenen Jahre in den betäubenden Armen der Morphia zugebracht.
    Früher oder später werde ich schwach werden und abermals die Grenzen unserer Freundschaft verletzen. Ob Du mich zurückweist oder mir nachgibst, das Ergebnis wäre dasselbe. Unweigerlich würde ich mehr von Dir verlangen, Du fingest an, mir deswegen Vorhaltungen zu machen, mich weniger zu achten, und alle Sympathien und alles Vertrauen, die sich in den letzten Jahren zwischen uns entwickelt haben und die mir unschätzbar sind, wären unwiderruflich verspielt.
    Nachdem ich sehr lange darüber nachgedacht habe, bin ich zu dem traurigen Schluss gelangt, dass es an der Zeit für uns ist, getrennte Wege zu gehen. Es wäre besser, für uns beide, nun voneinander zu gehen, als zuzulassen, dass das, was wir geteilt haben, zu Bitternis und Streit führte. Sollte man Dich fragen, was aus unserer vorgeblichen Verlobung geworden ist, sage einfach, dass Du sie angesichts meiner Glücksspielerei, meiner allgemeinen Ziellosigkeit und diversen anderen schlechten Angewohnheiten und Charakterschwächen gelöst hättest. Niemand dürfte die Wahrheit dessen anzweifeln, und jeder würde Dich verstehen.
    Gib Gracie einen Kuss von mir. Sag ihr, wie leid es mir tut, dass ich sie vor meiner Abreise nicht mehr sehen konnte und dass ich ihr schreiben werde, sowie ich Gelegenheit dazu finde.
    Verzeih meinen überstürzten Aufbruch, und ich bitte Dich
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