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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut
Autoren: Robert Masello
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Kragen
trug. Die Spitze ihrer Zunge tauchte auf, als wollte sie den verirrten Tropfen wieder einfangen, und Sinclair lächelte. »Ja, so ist es gut«, ermunterte er sie. »Nimm noch einen Schluck. Komm schon.«
    Sie gehorchte. Nach ein oder zwei Minuten schlug sie die Augen auf und sah zu Sinclair hoch. Sie sah verwirrt aus, ein Ausdruck tiefen Bedauerns, vermischt mit noch größerem Durst. Er hielt die Flasche weiterhin fest, und sie trank. Ihr Blick wurde klarer und ihr Atem regelmäßiger. Aber wenn sie zu viel tränke, würde sie das wenige womöglich wieder von sich geben. Als er spürte, dass sie genug hatte, legte er deshalb ihren Kopf wieder auf dem Kissen ab, verschloss die Flasche mit dem Korken und versteckte sie unter dem Berg aus Decken.
    »Ich muss zum Kapitän«, sagte er. »Ich werde nicht lange fort sein.«
    »Nein«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Bleib hier.«
    Er drückte ihre Hand. Fühlte sie sich nicht bereits wärmer an?
    »Sprich mit mir«, sagte sie.
    »Das werde ich. Ich werde dir von Kokosnusspalmen erzählen, so hoch wie St. Paul’s … «
    Die winzige Andeutung eines Lächelns erschien auf ihren Lippen.
    » … und vom Sand, so weiß wie die Felsen von Dover.« Es war ein geflügeltes Wort zwischen ihnen und stammte aus einem populären Liedchen. Sie hatten es einander oft zugemurmelt, in Momenten, die weit weniger schwer gewesen waren als dieser.
    Sinclair nahm den Hocker von der Tür fort, löschte das Licht, um den letzten Tran nicht zu verschwenden, und verließ die Kabine. Vom oberen Deck drang nur ein schmaler Lichtstreifen in den Gang, doch es reichte, um ihm den Weg zur Treppe zu zeigen.
    So kalt es unten auch sein mochte, an Deck war es weit schlimmer. Wie ein Blasebalg schien der Wind ihm die Luft aus den
Lungen zu saugen, um sie stattdessen mit einer eiskalten Böe zu füllen. Addison, der Kapitän, stand am Steuerrad, eingemummt in mehrere Lagen Stoff, von denen die letzte ein zerfetztes Segel war. In Sinclairs Augen war er nicht mehr als ein Freibeuter, der ihm für seine und Eleanors Passage einen dreimal höheren Fahrpreis als üblich abgepresst hatte. Der Mann schien Verzweiflung riechen zu können und hatte keine Skrupel gehabt, ihre Lage auszunutzen.
    »Ah, Lieutenant Copley«, verkündete er. »Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas Gesellschaft leisten.«
    Sinclair wusste, dass es um mehr ging. Er blickte am Kapitän vorbei auf die rollende graue See, übersät mit großen Eisschollen, und in den Nachthimmel, der in diesen südlichen Breiten einen gleichbleibend blaugrauen Schimmer hatte. Zwei Matrosen, einer auf jeder Seite des Decks, hielten nach besonders zerklüfteten und gefährlichen Eisbergen Ausschau; ein weiterer hockte hoch über ihnen im Krähennest. Das Schiff kam nur langsam und unter großen Gefahren voran, und die ständig umschlagenden Winde ließen die gefrorenen Segel, zumindest diejenigen, die noch losgemacht werden konnten, mit lautem Knallen flattern und luven.
    »Wie ist das Befinden Ihrer Gemahlin?«
    Sinclair trat näher, wobei er mehrmals auf dem glatten Deck ausrutschte.
    »Der gute Doktor«, fuhr Addison fort, »sagte mir, es gehe ihr immer noch nicht besser.« Seinen Dreispitz hatte er mit einer ausgefransten blutroten Schärpe unter seinem Kinn festgebunden.
    Wenn es eine Sache gab, über die Sinclair und der Kapitän sich einig waren, dann war es die völlige Unfähigkeit des Schiffsarztes. Im Grunde war jeder Mann hier an Bord von äußerst fragwürdigem Charakter, aber Sinclair hatte sofort eine Passage buchen können, ohne dass jemand Fragen gestellt hätte.
    »Es geht ihr besser«, erwiderte Sinclair. »Im Moment ruht sie sich aus.«
    Addison nickte nachdenklich, als machte er sich Sorgen, und warf einen Blick auf den wolkenverhangenen, sternenlosen Himmel. »Die Winde haben sich gegen uns verschworen«, sagte er. »Wenn wir nicht bald den Kurs ändern können, werden wir uns demnächst am Südpol wiederfinden. Mein Lebtag hab ich nicht solchen Wind erlebt.«
    Sinclair hörte aus der Bemerkung genau das heraus, was der Kapitän zweifelsohne hatte sagen wollen: eine Mahnung, dass er das schlechte Wetter der Anwesenheit der mysteriösen Passagiere an Bord zuschrieb. Frauen auf hoher See brachten Unglück, und dass Eleanor krank und weiß wie ein Gespenst war, machte es noch schlimmer. Am Anfang hatte Sinclair getan, was er konnte, um sich dem Leben an Bord anzupassen und ein ruhiger und angenehmer Gast zu sein. Doch seine
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