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Eisige Versuchung

Eisige Versuchung

Titel: Eisige Versuchung
Autoren: Sandra Henke
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riesigen Schwingen, den Shade als Kind mit ihrem Vater am Bridgeport Reservoir eine ganze Stunde lang durch ein Fernglas beobachtet hatte.
    »Hören Sie das auch?« Shade blieb stehen und lauschte.
    »Fürchten Sie sich nicht vor dem Wolfsgeheul!« Während der alte Mann dank seiner Spezialschuhe leichtfüßig über die Schneedecke schwebte, hielt er sich mit einer Hand am Gewehrriemen fest, die andere schwang vor und zurück, wohl um den Schwung auszunutzen und schneller voranzukommen. Es machte den Eindruck, als tänzelte er über den Belag. »Die Tiere verständigen sich damit nur und stärken das Gruppengefühl im Rudel.«
    Sie lief ihm hinterher. »Ich habe keine Angst.«
    »Normalerweise wollen Touristen in ihr Hotel zurück, wenn sie die Wölfe hören, dabei ist das in meinen Ohren die schönste Musik.«
    »Ich bin in Bridgeport aufgewachsen«, stellte Shade klar und zog im Gehen ihre Handschuhe an, weil ihre Finger kalt wurden. Bisher hatte das Adrenalin sie warmgehalten. Nun, da Roque weg war, kühlte die Glut in ihr ab. Oder beobachtete er sie etwa aus dem Verborgenen heraus? Sie erschauderte. Zu ihrer eigenen Überraschung war dieser Schauer jedoch angenehm und vielmehr wie Fingerspitzen, die sanft über ihren Rücken streichelten.
    Über seine Schulter hinweg lächelte der alte Mann sie kurz an. »Sie sehen aus wie eine Städterin.«
    »Ich zog mit meinen Eltern nach L.A., als ich zehn war.« Wie zur Bestätigung seiner Worte strich Shade über ihr Augenbrauenpiercing und wuschelte durch ihre Haare, damit sie nicht am Kopf klebten. Wenn man im Mono County ein Tattoo oder ein Piercing haben wollte, musste man vermutlich bis nach Reno hoch fahren. »Mist!«
    »Haben Sie etwas verloren?«, fragte er, verringerte jedoch seine Geschwindigkeit nicht.
    Langsam machte es für Shade den Anschein, dass er vor etwas floh. Etwa vor Roque? Ahnte er, dass der Eisengel sich nicht so einfach seine Beute abjagen ließ? »Meine Mütze, er hat sie noch.«
    Der Alte lächelte milde, als wollte er damit ausdrücken, dass Shade sie abschreiben konnte.
    Resigniert zuckte sie mit den Achseln. Sie mochte ohnehin keine Kopfbedeckungen, da sie ihre kunstvoll windzerzauste Frisur ruinierten. »Glauben Sie, er hat etwas mit dem Geheul der Wölfe zu tun?«
    Der Alte schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Er lässt Mensch und Tier in Ruhe, wenn man ihn in Ruhe lässt.«
    »Heißt das, ich habe schlichtweg Pech gehabt«, sie japste nach Luft, weil das Stapfen durch den Schnee auf Dauer in diesem Tempo anstrengend war, »weil ich ihm zufällig über den Weg gelaufen bin?«
    Plötzlich lichteten sich die Tannen, und Shade sah keine zwanzig Meter von ihnen entfernt eine kleine Hütte. Das Holzhaus stand auf einer Lichtung und wurde an drei Seiten von Bäumen, die noch voll leuchtend buntem Herbstlaub hingen, geschützt. An die linke Seite schmiegte sich ein Carport, in dem ein Schneemobil parkte. Gleich neben dem Scooter war Feuerholz ordentlich aufgestapelt. Der Vorplatz sah aus, als hätte jemand Puderzucker verstreut. Der Schnee wirkte hier viel feiner und lag nur knöchelhoch. Zahlreiche Spuren waren zu erkennen, nicht nur von dem alten Mann, sondern auch von unterschiedlichen Tieren. Erdnüsse lagen neben einem Holzblock, in dem eine Axt steckte.
    Der Alte folgte Shades Blick und erklärte: »Ein Eichkätzchen kommt mich täglich besuchen. Ich nenne es Pompom – Puschel. Nicht sehr einfallsreich, ich weiß, aber es hört auf seinen Namen.«
    Schmunzelnd ging Shade an der Kate vorbei an den Rand des Plateaus, auf dem die Lichtung lag. Von hier oben aus hatte man einen Ausblick auf das gesamte Bridgeport Reservoir. Die Hütte lag abgeschieden und dennoch nicht einsam. Ein wunderschönes Fleckchen Erde.
    »Atemberaubend!« Sie hätte nicht gedacht, dass sie das noch einmal über die Sierra Nevada sagen würde. Denn wenn sie an die Wälder, die sie in ihrer Kindheit fast täglich durchstreift hatte, zurückdachte, sah sie für gewöhnlich nur noch eine Felsspalte, die so tief war, dass man den Grund nicht erkennen konnte. Manchmal träumte sie noch immer von ihr, selbst nach all den Jahren. Dann füllte sich diese Spalte mit Blut. Es stieg immer höher, bis es über den Rand trat und über Shades pinkfarbene Riemchensandalen lief, als wollte die rote zähe Flüssigkeit sie als Sünderin markieren oder greifen und mit hinabreißen.
    »Was machen Sie hier auf dem Berg?«, fragte ihr Begleiter.
    Sie schreckte aus ihrer Erinnerung auf.
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