Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eisige Versuchung

Eisige Versuchung

Titel: Eisige Versuchung
Autoren: Sandra Henke
Vom Netzwerk:
überspielen.
    Er neigte seinen Kopf zur Seite und runzelte seine Stirn.
    »Ich bezweifle, dass sie passt, aber du könntest sie wenigstens über deine Schultern legen.«
    Seine Augen weiteten sich, wohl weil er verstand, dass sie um sein Wohlergehen besorgt war. Doch er ging nicht darauf ein. »Meine Beute sollte zu mir finden, nicht du.«
    »Beute?«, echote sie mit belegter Stimme.
    Ein Grollen drang aus der Tiefe seiner Kehle, als wäre er ein Bobcat und kein menschliches Wesen. »Mein Opfer.«
    Bang machte sie einen Schritt zurück, doch ihr Stiefel rutschte auf einer Eisfläche aus, die – das hätte sie schwören können – vorher noch nicht da gewesen war. Sie fiel auf ihren Hintern, richtete sich jedoch hastig wieder auf.
    »Ich bin ein Jäger«, erklärte er, worauf Shade sich etwas entspannte. Allerdings wunderte sie sich, wo er sein Gewehr gelassen hatte. »Oder tötet er mit bloßen Händen?«, witzelte sie in Gedanken, bis sie bemerkte, dass sie damit nur ihre Angst weiter entfachte.
    »Erwartest du etwa, dass sich die Maultierhirsche freiwillig vor dich stellen, obwohl sie deine Absichten wittern? Du musst sie schon jagen .« Sie betonte das letzte Wort sarkastisch.
    Erneut runzelte der Mann die Stirn, und sie fing an zu glauben, dass er doch nicht ganz bei Trost war.
    »Hast du überhaupt eine Lizenz?« Er trug sie garantiert nicht bei sich, so viel stand fest. Sie genoss es, ihn immer wieder von oben bis unten anzuschauen. Er war wirklich eine Augenweide.
    Sein Blick wurde intensiver. »Keine Tiere.«
    »Menschen?« War er ein Kopfgeldjäger? Sie schluckte schwer. Jedenfalls wusste sie, warum er sie nicht sofort verstand: nicht etwa, weil er begriffsstutzig war, sondern weil sie ständig aneinander vorbeiredeten. Als würden sie nicht dieselbe Sprache sprechen. Oder nicht aus derselben Welt stammen.
    »Zielpersonen. Es besteht eine magische Beziehung zwischen uns, sodass wir voneinander angezogen werden.«
    So, wie er das sagte, klang es nicht nach etwas Gutem. Überraschenderweise reagierte ein Teil von ihr ganz anders auf diese Neuigkeit. Sie war enttäuscht, nicht die Person zu sein, die mit ihm verbunden war, wie auch immer er das mit dem »magisch« meinte. In Shades Ohren hörte es sich jedenfalls romantisch an.
    Er musterte sie von oben bis unten, und sein Blick drückte Bedauern aus. »Du bist es nicht.«
    »Oh, wie schade!« Ein Teil von ihr meinte es sogar so.
    »Trotzdem hätten wir uns niemals begegnen dürfen, nicht so.«
    Sie wandte sich ab, um schnell den Hang hinabzulaufen, doch im nächsten Moment stand der Fremde auch schon vor ihr. Er breitete seine Arme aus und das, was er schon die ganze Zeit auf dem Rücken trug, und versperrte ihr den Weg.
    Perplex öffnete Shade den Mund. Kein Rucksack, kein Schwan, keine Schwerter in Scheiden, sondern wunderschöne weiße Flügel ragten hinter ihm hervor. Er musste sie zusammengefaltet und vom Körper weggestreckt haben, sodass Shade sie nicht hatte erkennen können. Die Perspektive hatte sie verwirrt, überdies das vermaledeite starke Schneien und das Knistern der Kristalle, das sie nun vielmehr als Wispern wahrnahm – wie Millionen leiser Fistelstimmen, die sie ablenkten. Zudem hatten ihre Augen wohl nicht wahrhaben wollen, was sie sahen, und ihr Gehirn hatte in völlig falsche Richtungen gedacht.
    Der Wunsch, die Schwingen zu berühren, wurde beinahe übermächtig. Sie sehnte sich danach, mit ihren Fingerspitzen über die einzelnen Federn zu streicheln und ihre Wange daran zu reiben.
    Ebenso faszinierend wie tödlich, denn als der Unbekannte dicht an sie herantrat, fielen ihr einzelne federlose Stege am Rand der Flügel auf. Shade vermochte nicht zu sagen, ob der Fremde das Wissen auf sie projiziert hatte oder ob es sich um ihre eigene Assoziation handelte, aber aus irgendeinem beängstigenden Grund wusste sie, dass diese Kiele tief ins Fleisch stoßen und Wunden reißen konnten, die nie wieder heilten. Vor ihrem geistigen Auge tauchten Bilder von blutverschmierten Schwingen auf. Sie erschauderte vor Grauen.
    Eindringlich betrachtete der Mann ihr Gesicht, als würde er prüfen, ob sie nicht doch die Person war, die er jagte. Er wischte mit seinem Zeigefinger über ihre Wange und betrachtete das Schwarz ihres Kajals, der offenbar erneut verlaufen war.
    Warum fühlte sich diese Berührung nur so gut an? Shades Herz pochte so heftig, dass ihr schwindelig wurde, aber sie riss sich zusammen und straffte ihre Schultern, um mutiger
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher