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Eisblut

Eisblut

Titel: Eisblut
Autoren: Marina Heib
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mehr werden würde. Sie war jung, klug und schön. Und sie war die Affäre
von Pete, diesem halbamerikanischen Profiler aus der FBI-Schmiede. Pete,
der ihm damals vom BKA als Aufpasser ins Team gesetzt wurde, war ihm
schon am ersten Tag auf den Geist gegangen mit seiner selbstbewussten,
jugendlichen Frische. Unvorstellbar, dass sich Anna schließlich gegen Pete und
für ihn entschieden hatte. Aber er hatte das getan, was er am besten konnte. Er
hatte es versaut, gründlich versaut.
    In einem Anfall von Selbstekel trank Christian den letzten Schluck
aus seinem Whiskyglas, griff nach seiner Jacke und flüchtete aus der Wohnung,
in der seine Gedanken doch nur immer wieder gegen die gleichen Mauern prallten.
Er brauchte frische Luft und ging los, ohne auf den Weg zu achten. Christian
war schon immer gerne ziellos durch die Gegend gelaufen, wenn er auf andere
Gedanken kommen wollte. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, zerrte an Haaren und
Kleidung, seine zu dünne Jacke flatterte, er zog sie enger um sich, lehnte sich
leicht gegen die Kraft des Sturms an. Absichtslos ging er am
Kaiser-Friedrich-Ufer entlang, blieb gedankenverloren stehen, versuchte, sich
eine Zigarette anzustecken, was wegen des Sturms nur schwer gelang. Zwei Ratten
spielten an der Böschung miteinander. Von ihrem Quieken aus seiner
Versunkenheit gerissen, ging er weiter.
    Hoffentlich hielt Anna Abstand zu dem neuen Fall. Und zu Pete. Sie
war zwar eine starke Frau und kam mit dem Schrecken, den sie letztes Jahr
erlebt hatte, inzwischen zurecht, aber Christian wollte nicht, dass sie etwas
Ähnliches jemals wieder durchmachen musste. Er liebte sie im Grunde immer noch,
und nur das konnte erklären, dass er sich unversehens vor ihrem Haus
wiederfand.
    Petes Wagen stand nicht mehr da, aber durch das Küchenfenster, das
nach vorne lag, konnte man erahnen, dass im Wohnzimmer dahinter noch Licht
brannte. Christian widerstand nur mit Mühe dem Impuls, zu klingeln. Anna,
dachte er, schöne Anna. Er hatte sie im Stich gelassen damals, sich im eigenen
Sumpf aus Selbstmitleid gesuhlt und irgendwann keinen Gedanken mehr daran
verschwendet, dass Annas Probleme weitaus schwerwiegender waren als seine blöde
verletzte Eitelkeit. Okay, am Anfang hatte er ihr noch zur Seite gestanden,
hatte ihr die Hand gehalten und die Seele behütet, wenn die Angst sie an der
Gurgel packte und ihr die Luft abschnürte. Sie war so tapfer gewesen, hatte
alle Kraft aufgewandt, um ihn nicht spüren zu lassen, wie schlecht es ihr ging.
Dass sie sich verkrampfte, wenn sie beim Sex seine Leidenschaft unwillkürlich
als Bedrohung empfand. Dass sie den Geruch von Sperma nur schwer ertrug. Dass
sie sich in der Rolle der Therapeutin nicht mehr ertrug. Anna hatte das alles
durchlitten, sie hatte dagegen angekämpft mit ihrem ganzen Verstand und jeder
Faser ihres Körpers. Und sie hatte gesiegt. Er hingegen hatte sich sofort gehen
lassen, als auch nur das Geringste schiefging, er hatte sich zurückgezogen wie
ein beleidigtes Kind, geschmollt, und alle Welt für sein Scheitern
verantwortlich gemacht, nur nicht sich selbst. Dafür schämte er sich. Er war
Anna nicht wert. Er sollte sie in Ruhe lassen. Was tat er überhaupt hier?
Herrgott noch mal, was sollte das? Er war raus aus der Show, sowohl beruflich
als auch privat. Und das war besser so, für alle Beteiligten. Abrupt wandte er
sich um und machte sich auf den Heimweg.
    Schorsch wachte blinzelnd auf. Mann, hatte er einen
Brummschädel! Wohl zu viel gesoffen gestern mit Hansi, grinste er in sich
hinein. Er wollte aufstehen, doch es ging nicht. Seine Glieder waren wie Blei.
Schorsch schüttelte den Kopf, um noch wacher zu werden. Das tat verdammt weh.
Er wollte die Hand heben und sich am Kopf kratzen. Aber auch das ging nicht.
Weder die eine Hand noch die andere ließ sich bewegen. Schorsch hatte eine
schrecklich trockene Kehle, einen Nachbrand der höllischsten Sorte. Was hatte
er gestern bloß für ’nen beschissenen Stoff gekippt? So schlimm war es ja noch
nie gewesen. Er versuchte noch einmal, sich aufzurichten. Es ging ums Verrecken
nicht. Er konnte sich keinen Millimeter bewegen. Wo war er überhaupt? Kein
Himmel über ihm zu sehen. Nur Dunkelheit, tiefschwarze Dunkelheit. Kein
Autoverkehr von der Kollaustraße, sondern absolute Stille. Er war in einem
Raum. In einem absolut stillen, absolut schwarzen Raum. Es war kalt und roch
modrig. Und er konnte sich nicht bewegen.
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