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Eisblut

Eisblut

Titel: Eisblut
Autoren: Marina Heib
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Wahrheit ins Gesicht blickten. Frau Berger hielt sich
aufrecht, doch ihre Lippen waren zusammengepresst, ihre Hand, die sie Karen
reichte, kalt und hart wie ein Eiszapfen. In Anbetracht der Tatsache, dass die
Leiche selbst für Außenstehende nicht ohne Erschütterung anzusehen war, fragte
Karen, ob Manuela Bergers Mann die Aufgabe der Identifizierung nicht übernehmen
könnte.
    Â»Mein Exmann lebt in Kuwait, er ist Ingenieur«, presste Frau Berger
heraus. Volker warf Karen einen Blick zu, der ihr die Größe des Fettnapfs, in
den sie gerade getreten war, nur ungefähr beschrieb.
    Â»Ich werde das übernehmen«, warf Lars tapfer ein. Er war Ende
zwanzig, überragte seine Mutter um etwa zwei Kopflängen, und machte einen
gefassten Eindruck. Noch. Seine Mutter schüttelte den Kopf: »Ich will die junge
Frau selbst sehen.«
    Nachdenklich betrachtete Karen die attraktive Mittvierzigerin in
ihrem schicken Kostüm. Den Stiftrock strich sie mit einer fahrigen Bewegung zum
wiederholten Male glatt, eine klassische Übersprungshandlung.
    Â»Es ist kein schöner Anblick«, sagte Karen leise, »und wenn Ihr Sohn
die besseren Nerven hat, wäre es mir sogar lieber …«
    Â»Es ist nicht Uta, das kann gar nicht sein«, unterbrach Frau Berger
bestimmt, »auch wenn die Beschreibung passt. Ich bin nur ein bisschen in Panik,
weil sie gestern nicht zum Mittagessen kam und sich seither nicht gemeldet hat.
Typisch Glucke. Aber wer weiß?« Frau Berger bemühte sich um ein Lächeln, was
gründlich schiefging. »Die jungen Dinger können tausend Gründe haben, sich
nicht bei ihrer Mutter zu melden, nicht wahr?«
    Das »nicht wahr?« hatte sie fast flehend ausgesprochen. Sie wollte
von Karen die Erlaubnis, ihren Kopf weiter in den Sand stecken zu dürfen.
Vermutlich wäre sie am liebsten sofort wieder nach Hause gefahren, um weiterhin
hoffen zu können, dass sich ihre Tochter melden würde. Wenn nicht jetzt, dann
gleich. Oder später. Und erst wenn die Ungewissheit noch quälender wurde als
die Angst vor einer traurigen Gewissheit, würde sie freiwillig wiederkommen.
    Karen öffnete die Tür zum Kühlraum, wo die Leiche auf einem
Metalltisch aufgebahrt lag. Ein weißes Tuch bedeckte ihren Körper. Volker blieb
draußen. Mit wackligen Schritten näherte sich Frau Berger, nun deutlich Gewicht
auf den Arm ihres Sohnes verlagernd. Einen Meter vom Tisch entfernt blieb sie
stehen, holte noch einmal Luft und nickte Karen zu. Vorsichtig zog Karen das
Tuch zurück. Sie legte nur das Gesicht frei, um der Frau noch schlimmere
Albträume zu ersparen.
    Manuela Berger blickte in das wächserne Gesicht, in dem Karen die
schlimmsten Verletzungen überschminkt hatte. Plötzlich kam ein qualvoller, fast
unmenschlicher Laut über ihre Lippen, und sie sackte zusammen. Lars und Karen
konnten sie gerade noch halten, bevor sie auf den Fliesenboden aufschlug.
    Volker kam sofort hinzugerannt, nahm Manuela Berger hoch und trug
sie hinaus, wo wie immer eine Liege bereitstand. Karen wollte folgen, um sich
um Frau Berger zu kümmern, doch Lars blieb wie betäubt vor der Leiche stehen.
    Â»Sie ist es, oder?«, fragte Karen behutsam.
    Lars nickt apathisch: »Uta. Sie ist es.«
    Karen fasste ihn ganz leicht am Arm, um ihn aus seiner Starre zu
lösen und hinauszuführen. Doch er riss sich los, erschrocken durch die
Berührung, die er nicht einmal bewusst wahrgenommen hatte, und fuhr herum.
    Â»Wer tut so was?«, schrie er. Sein Gesicht war verzerrt von Hass und
Verzweiflung.
    In dieser Nacht schien es keinen Schlaf zu geben. Als
hätte sich etwas Dunkles, Böses über der Stadt ausgebreitet, das einen
instinktiv zwang, die Augen nicht zu schließen, weil die Angst zu groß war, es
könnte keinen Tag mehr geben und das Licht nicht mehr zurückkommen und ewige
Finsternis würde sich ausbreiten, eine Finsternis, so undurchdringlich, dass
selbst das Atmen schwer fiel. In dieser Nacht gab es keinen Schlaf. Auch für
Christian nicht.
    Nachdem er Volker nach dessen wie üblich überragendem Sieg zur Tür
gebracht hatte, saß er im Wohnzimmer und fand keine Ruhe. Er lauschte dem
Herbststurm, der von draußen gegen die Fensterscheiben tobte, er lauschte dem
Herbststurm, der in ihm selbst tobte. Anna war wieder da. Anna. Als er sie
letztes Jahr kennengelernt hatte, hatte er kaum zu hoffen gewagt, dass daraus
einmal
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