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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis
Autoren: Majgull Axelsson
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vorgekommen.
    Ulrika lächelt in ihrer Ecke:
    »Heute kommen die Eisberge.«
    Die Frau ihm gegenüber blinzelt:
    »Bist du dir sicher?«
    Susanne. So heißt sie. Bald hat er fast alle der siebenundsechzig Namen der Menschen an Bord gelernt. Also kann er noch nicht ganz senil sein.
    »Fast sicher. Es ist Zeit für Eisberge. Oder was meinst du, Roland?«
    Roland, Kapitän und Alleinherrscher der Oden, bleibt an ihrem Tisch stehen. Er sieht verbissen aus.
    »Das ist sehr gut möglich«, sagt er und nickt Ulrika zu, bevor er Susanne fixiert. »Und mit dir möchte ich sprechen, sobald du fertiggegessen hast. Oben auf der Brücke.«
    Sie sieht verwirrt aus.
    »Mit mir? Wieso das?«
    Rolands Augen verengen sich.
    »Das erzähle ich dir, wenn wir auf der Brücke sind.«
    Mit kerzengeradem Rücken verlässt er die Messe.
    »Oje«, sagt Ulrika und wedelt mit der rechten Hand, als hätte sie sich verbrannt. »Oje. Das gibt Senge … Was hast du denn gemacht?«
    »Ich habe gar nichts gemacht«, erwidert Susanne.
    Doch ihre Stimme ist schrill, und ihre Wangen sind gerötet. Also hat sie doch etwas gemacht. Das sieht man ja.

Und dann kommt der Eisberg.
    Zuerst sind es nur ein paar kleine Klumpen, die vorbeigleiten, sanft gerundete Eisinseln, die von den Wellen abgeschliffen wurden und bald ganz schmelzen werden; aber hinten am Horizont sind bereits die großen Meisterwerke zu erahnen: kleine weiße Brocken, die im Spalt zwischen dem Licht des Himmels und dem dunklen Blau des Meeres glitzern. Und an allen Decks, die acht Tage lang so gut wie menschenleer dalagen, wimmelt es jetzt von Menschen. Sie strömen aus den großen Laboratorien und den kleinen Laborcontainern herbei, von der Brücke und aus dem Maschinenraum, aus Küche und Werkstatt, aus den Kajüten und dem Raucherzimmer. Einige haben sich schon gegen die Kälte gewappnet, sich die blauen Jacken übergezogen, die Uniform der Expedition, und die Mützen tief in die Stirn gezogen, andere stehen in Pullover und dünner Hose da und ziehen die Schultern zum Schutz gegen den Wind hoch. Ihre Kameras sind bereit. Alle haben ihre Kameras gezückt. Die Luft ist schwer vor Erwartung, Gespräche werden nur vereinzelt geführt, mit gedämpfter Stimme.
    Der erste richtig große Berg ist ein Amphitheater, ein funkelndes Amphitheater mit einem Fußboden aus blauem Glas. Er gleitet in einem Abstand von nur fünfzig Metern vorbei und dreht sich langsam, während die Oden passiert, gibt seine weiße Vollkommenheit preis, als wollte er zeigen, dass sein Äußeres ohne den geringsten Fleck oder Riss ist, dass nur noch das Publikum und die Schauspieler fehlen.
    Die Stimmen auf der Oden verstummen. Die Kameras klicken.
    Der zweite große Berg ist ein Capri en miniature, weiße Bergspitzen recken sich gen Himmel, am Außenrand schimmert eine Grotte im klarsten Blau. Unter dem Wasser ist der gewaltige Klumpen von türkisem Eis zu sehen, der die ganze Insel schwimmen lässt. Jemand erinnert sich plötzlich an das Bild aus dem Psychologiebuch über das Unterbewusstsein und muss lachen, besinnt sich aber gleich darauf und zückt wieder den Fotoapparat.
    Der dritte Berg ist ein richtiger Berg, spitz und imposant, ohne jede Spur von Koketterie. Dunkle Risse klaffen wie Wunden in der weißen Hülle, und Schneelagen zeichnen blasse Blutspritzer drum herum. Er kommt ganz nah, einen Moment lang scheint der Koloss so dicht an die Oden heranzukommen, dass alle den Atem anhalten. Kurz flackern Fantasien auf. Kann die Oden umkippen? Kann ein Eisberg von dieser Größe ein Loch in den Schiffsbauch reißen, der aus drei Zentimeter massivem Metall besteht? Nein. Natürlich nicht. Sie sind auf der sicheren Seite. Der Steuermann, der ihn so nah hat herankommen lassen, weiß, was er tut. Und außerdem scheint die Nähe eine Illusion zu sein, das sieht man, als ein junger Matrose seine Hand ausstreckt, um den Berg zu berühren. Das geht nicht, der Abstand ist unendlich viel weiter als eine Männerarmlänge.
    Dann haben sich alle an den Anblick gewöhnt. Die Jungs aus dem Maschinenraum ziehen die Hände aus der Tasche und stampfen stattdessen, sie wissen selbst nicht so recht, ob aus Ungeduld oder Pflichtgefühl, sie wissen nur, dass es an der Zeit ist, wieder hinunter in das Dröhnen zu gehen, das ihren Alltag bestimmt. Die Bewegung setzt sich fort: Eine der Frauen aus der Messe guckt auf die Uhr – Mein Gott, sie muss ja die Kartoffeln aufsetzen! –, und zwei der Forscher sehen ebenso plötzlich ein, dass es Zeit
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