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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis
Autoren: Majgull Axelsson
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Armen und dreht sich zum Spiegel um. Ja. Er hat ihre Mitteilung erhalten, das ist offensichtlich. Kurz bevor sie die Kajüte verließ, ist sie ins Bad gegangen und hat mit dem Lippenstift das Gleiche geschrieben, das sie in den letzten Tagen jedesmal schrieb, wenn sie die Kabine verließ: GOTT SIEHT DICH, DU SCHWEIN! Das ist eine Nachricht, die nicht gut angekommen ist. Er hat den Lippenstift über den ganzen Spiegel verschmiert, den Text mit einem Handtuch weggewischt, sodass er nicht mehr zu lesen ist, und es dann zu Boden geworfen, bevor er seine eigene Mitteilung mit demselben Lippenstift in viel größeren Buchstaben geschrieben hat: FOTZE!
    Sie muss ein paarmal schlucken, um sich zu beruhigen. Eine brillante Antwort. Äußerst begabt. Und außerdem hat dieser Vollidiot ihren Lippenstift abgebrochen, das sieht sie jetzt, den einzigen Lippenstift, den sie mit auf die Expedition genommen hat, ihr absolut einziges Exemplar des Lancôme Long Lasting Juicy Rouge der Farbe Nummer 132. Sie wird ihn umbringen. Sobald sie ihn zu fassen bekommt, wird sie ihm die Ohren abschneiden und ihn dann erschlagen.
    Natürlich nur unter der Bedingung, dass er sie nicht zuerst erschlägt. Und dass es kein böses Omen war, dass das Gesicht, das sie im Spiegel erblickte, so blass war, dass es aussah, als gehörte es einem ihrer eigenen Mordopfer.

Kurz hinter dem Cape Farewell ändern sie den Kurs. Der nächtliche Steuermann koppelt den Autopiloten aus und legt seine Hand auf den Steuerknüppel, einen kleinen Joystick, viel kleiner als der Schalthebel eines Autos, der die ganze gelbe Wucht des Eisbrechers Oden lenkt. Mit leichter Hand, aber dennoch ganz vorsichtig richtet er den Bug langsam Richtung Norden aus, maßvoll und beherrscht in jeder Bewegung, beim Griff um den runden Knopf des Lenkstabs, in der leichten Beuge des Ellbogengelenks, in der sanften Anspannung des Bizeps. Trotzdem will es nicht. Er lenkt zwar sein Schiff, ist jedoch nicht Herr über die Wellen des Atlantiks, die es jetzt fangen, als es sich querlegt, und mit ihm spielen, wie man mit einem sehr kleinen Kind spielt; mit vorgetäuschter Heftigkeit und großer Vorsicht heben sie seinen massigen Körper hoch in den hellgrauen Nachthimmel, um ihn gleich wieder tief in das dunklere Grau der Wellentäler eintauchen zu lassen, sie ziehen ihn hoch und lassen ihn sinken, ziehen ihn hoch und lassen ihn sinken …
    Ohne es selbst zu merken, schiebt der Steuermann die Zungenspitze vor und lässt sie beim Steuern helfen, während sich die Rückenmuskeln anspannen und der Griff um den Steuerknüppel fester wird. Er ist vollkommen konzentriert, dennoch versteckt sich ein Lächeln in den Fältchen um die Augen. Genau hier will er sein. Niemals irgendwo anders. Wenn er sich ein Paradies nach dem Tod aussuchen könnte, dann müsste es genau so sein: eine ewige Nachtwache auf der Brücke der Oden, genau in dem Moment, als das Schiff dem Atlantik den Rücken zuwendet und in die Davis Strait hineinfährt, Baffin Island irgendwo an der Backbordseite und Grönlands Westküste wie ein Schatten steuerbord. Er könnte die gesamte Ewigkeit in dieser Einsamkeit verbringen, da sie die trostreiche Gewissheit birgt, dass er von Menschen umgeben ist, von vielen, aber dennoch nicht mehr, als er zählen kann, und dass die meisten ruhig in ihren Kajüten schlafen. Nur er und zwei Männer in blauen Overalls tief unten im Maschinenraum sind im Augenblick wach. Vorausgesetzt, dass nicht alle von dem Seegang aufgewacht sind natürlich, daliegen und sich an den Kojenrändern festhalten, voller Angst, herauszufallen. Was sie ruhig tun können. Hauptsache, dass niemand auf die Brücke kommt und Steuermann Leif Eriksson in seiner besten Stunde stört.
    So. Das Gieren ist abgeschlossen. Der stumpfe Bug zeigt geradewegs Richtung Norden, und das Schaukeln hat aufgehört. Die Oden, dieses Femininum mit dem schwedischen Namen des männlichen Gottes Odin, rollt ruhig weiter. In offenem Fahrwasser bewegt sie sich wie eine Frau im neunten Monat oder wie ein Ringer außerhalb des Rings. Doch bald, nach nur ein paar Stunden oder Tagen, wird sie diesen unnatürlichen Zustand hinter sich lassen und ins Eis hineingleiten. Das ist ihr wahres Element, in dem sie tanzt.
    Leif Erikssson schaltet den Autopiloten ein, streckt den Rücken und spürt, wie die Anspannung von ihm abfällt. Das Paradies? Verdammt, auf was für verrückte Ideen man doch spätnachts kommen kann. Es ist wohl eher anzunehmen, dass er in der Hölle
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