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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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kleine Jörg-Alfred – noch ein Baby, als ich fortging – klemmt zwischen ihren Knien, wo er sich stumm und verbissen windet wie ein aufgespießter Regenwurm.
    In der Mitte des Raums steht ein schwerer Tisch, den ich sofort erkenne, schließlich habe ich oft genug daran zu Mittag gegessen. Der Tisch gehört Frau Wahl, unserer ehemaligen Köchin und Zugehfrau, die jetzt in der Munitionsfabrik arbeitet. Sie spielt Karten und braucht eine große freie Fläche.
    Jetzt sitzen Leute am Tisch, die ich noch nie gesehen habe, zufällige Passanten von der Straße vermutlich. Es sind zwei Frauen mit zerzaustem Haar und müden Gesichtern, die ebenso gut vierzig wie sechzig sein können, und, jawohl, sie sind Passanten! Zwischen ihnen steht eine einzelne Tasche, die so prall gefüllt ist, dass sie kaum noch schließt. Die Blicke der alten Bechtolf haben sie schon bemerkt und schieben die Tasche verstohlen noch ein bisschen weiter unter den Tisch. Die nette Schaffnerin kapiert sofort und setzt sich direkt davor.
    Die beiden Frauen können einem leidtun. Da sind sie stunden-, vielleicht tagelang gefahren und gewandert, haben im Stroh übernachtet und an den Türen unwilliger Bauern geklopft, da haben sie Tischwäsche und Schmuck getauscht gegen Brot, Gemüse und Eier, die Kontrollen an den Bahnsteigen und im Zug überstanden, waren schon fast zu Hause ... und nun sind sie eingesperrt mit den Blicken der alten Bechtolf!
    Aber auch unsere Ecke birgt ein kleines Geheimnis. Die Ukrainerin Olesia, der das Aufsuchen des Luftschutzkellers unter Strafe verboten ist, bekommt wenig Luft in ihrem Versteck, doch weich hat sie es allemal. Hinter unserem Bettgestell hat Mutter zur Wand hin einen guten halben Meter Zwischenraum gelassen, der mit Kissen und Decken ausgestopft ist.
    Ich setze mich neben sie aufs Bett und wünschte, ich hätte im Rücken ein zweites Paar Augen. Ob Olesia die Decken beiseiteschiebt, jetzt wo Mutter und ich den Blick auf sie versperren? Langsam würde ich sie gern einmal sehen, diese seltsame Fremdarbeiterin, die man dauernd liegend antrifft. Die Polinnen in Oschgau würden ihr Beine machen!
    Wir sitzen wie ein Bild. Niemand rührt sich, jeder horcht, der Herr Geheimrat bewegt seinen halb offenen Mund, als ob er Sekunden zählte. Oder betet er ...? Nein, dafür ist sein Blick nach oben zu angespannt.
    Die Sirene ist entnervend. Kann man die nicht abschalten? Es müsste doch nun wirklich jeder mitbekommen haben, dass Alarm ist.
    Das hatten wir uns anders vorgestellt, meine Freundinnen und ich! Hatten im Hinterhof den ganzen ersten Kriegssommer »Heimkehr des siegreichen Soldaten« gespielt, hatten Helgas Bruder Wolfi die kleinen Blechorden an die Heldenbrust gesteckt, die es am Kiosk zu kaufen gab, und die richtige Haltung mit ihm geübt: Aufrecht, Wolfi, du hast gesiegt!
    Noch heute sehe ich ihn aus dem Schatten des Vorderhauses treten und strahlend die Faust recken, während wir Mädchen unter Freudenschreien auf ihn zustürzten. Zwischen den Birken im Hof hatten wir das Festmahl schon vorbereitet, meine und Julianes Mutter hatten Kekse gespendet. Wir kannten niemanden, der mit etwas anderem rechnete als einem Fest.
    Und nun? Die Birken sind abgeholzt, im Hinterhof liegen die Trümmer des Hausdachs und ich habe keine Ahnung, was aus Helga, Juliane und Wolfi geworden ist, die im eingestürzten dritten und vierten Stock gewohnt haben. Hätte uns damals jemand gesagt, wie lange es dauern würde, und dass vor dem Sieg der Krieg zu uns käme, wir hätten ihn glatt ausgelacht.
    Da. Nun kracht die Flak, und das tiefe, immer lautere Dröhnen am Himmel wird mit einem Mal begleitet von einem metallischen Klappern direkt über Frau Kochs Kopf. Das Gitter des Kellerfensters zittert und bebt. Mit einem Klagelaut, der so atemlos hervorspringt, als habe er seit Stunden in ihrer Kehle gesteckt, wirft sich Frau Koch über Jörg-Alfred.
    »Sind viele!«, verkündet Herr Becker für alle, die es noch nicht ahnten. Die Petroleumlampen flackern, als sei ein Windstoß hindurchgefahren, der vielfache Atem der Angst.
    »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder ...«
    Die rauen Stimmen der Frauen mit der Hamstertasche füllen den Raum, Frau Koch wimmert undeutlich mit. Ich starre auf dierudernden Arme von Jörg-Alfred; hoffentlich drückt sie ihm nicht vor unser aller Augen die Luft ab!
    ». jetzt und in der Stunde unseres Todes«, leiern die Frauen. »Was soll das heißen: Sünder?«, fragt Frau Bechtolf ärgerlich. Die Frauen
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