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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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Vielleicht sollte ich nicht so viel fragen. Vielleicht sollte ich einfach froh sein, dass sie wieder zu Hause ist ...
    Mutter steht mit dem Rücken zu mir, hat den Telefonhörer in der rechten und etwas anderes, das sie gegen ihre Brust drückt, in der linken Hand. Ihre Schultern sind nach vorn gezogen, sie schirmt sich ab, und noch bevor ich sie leise und schnell sprechen höre, wird mir klar, dass etwas sie beunruhigt.
    »Ich habe gerade ein Paket bekommen, von meiner Tochter aus Oschgau ...«
    Ein Paket? Wenn das ein Code sein soll, dann ist es so ziemlich der ungeschickteste, von dem ich je gehört habe. Ein Paket! Jeder weiß, was das bedeutet. Und was sie an sich presst, ist ein dickes Sofakissen. Sie glaubt allen Ernstes, wenn sie ihr Telefon mit einem Kissen bedeckt, könnten Gespräche im Zimmer nicht abgehört werden!
    Jetzt sieht sie mich und erschrickt so sehr, dass sie den Hörer grußlos auflegt. Herrje. Als Geheimnisträgerin wäre Mutter eine Gefahr für alle Beteiligten.
    »Das freut mich aber, dass mein Paket schon da ist!«, rufe ich pflichtschuldigst. »Ich wollte gerade danach fragen ... die Marmelade habe ich nämlich selbst eingekocht!«
    Sie stopft das Telefon so hastig unter das Kissen, dass der Hörer hinters Tischchen fällt. Mit rotem Kopf geht sie mir voran in die Küche. Stoffe vom Schwarzmarkt, vermute ich, und dass sie soeben dem Verkäufer abgesagt hat, weil ihre Tochter – das Paket! –überraschend aus der Evakuierung zurückgekehrt ist. Warum sie glaubt, mich nicht einweihen zu können, verstehe ich zwar nicht. Doch wenn ich nicht frage, wird auch sie mich in Ruhe lassen.
    Mutter nimmt mir die Tasse aus der Hand und sieht mich verlegen an, was ich genau zwei Sekunden auskoste. Dann frage ich, weshalb sie mir von Olesia, dem Laden und unserer ausgeräumten Wohnung nicht geschrieben hat.
    »Ach, Fritzi. Man müsste so viel erklären. Du hast ja keine Ahnung, wie müde man wird ...«
    Mutters Erleichterung, dass ich nicht auf das Paket zu sprechen komme, ist unübersehbar.
    »Jetzt bin ich ja da«, erinnere ich sie. »Ich kann helfen! Einkaufen, kochen, waschen ...«
    »Sicher nicht. Schule gibt es nicht mehr, die Hitlerjugend wird dich dienstverpflichten, sobald wir dich für Marken anmelden. Was hast du dir bloß gedacht?«, murmelt sie. »Wenigstens musst du mit vierzehn noch nicht zur Flak.«
    Ich sage nichts. Mein Bruder Fabian hatte als Flakhelfer angefangen ...
    Und mit diesem Gedanken, der natürlich auch Mutter sofort gekommen ist, ist das Gespräch schon wieder beendet. Sie legt den Schalter um: fröhlich, laut, hell, geradezu munter. »Bringst du Oma Luchterhand heißes Wasser nach oben? Sie wird sich freuen, ein frisches junges Gesicht zu sehen.«
     
    Oben. Oben ist jetzt zweiter Stock. Der Dachstuhl ist in die vierte Etage gestürzt und hat Teile der dritten gleich mitgenommen. Wir wohnen in einem Gebäude, das jeder Regenguss in eine Tropfsteinhöhle verwandelt. Bis ins Erdgeschoss, wo zur Straße hin Mutters Laden und zum Hof unsere Dreizimmerwohnung liegt, ist das Treppenhaus feucht und verschimmelt, die Flurfenster zerklirrt, ziehen sich tiefe Risse durchs Mauerwerk. Ein schwarzer Gitterkäfig hängt schief an nur noch zwei Stahlseilen, gefangen zwischendrittem und viertem Stock. Unten stehen Warnschilder: »Vorsicht – Lift kann stürzen!«
    Oma Luchterhand verschmilzt im Dämmerlicht mit dem Muster ihrer Polstermöbel. In ihrer stickigen, ungelüfteten Wohnung ist es so heiß, dass Feuchtigkeit an den Wänden perlt. »Sehnsucht nach mir jehabt, wa?«, ruft sie mir entgegen.
    Mehr als dreißig Kilo kann sie nicht mehr wiegen. Zwei davon entfallen auf die wuchtige Perücke, die auf ihrem Vogelkopf sitzt. »Lass ma kieken!«, kommandiert sie. »Biste wirklich so jroß und hübsch jeworden oder sieht dit nur so aus?«
    »Es sieht nur so aus«, bestätige ich. Oma Luchterhand macht niemand etwas vor, obwohl sie seit bald elf Jahren keinen Schritt vor die Tür getan hat. »Ick jeh erst wieda raus, wenn dit Pack vaschwundn ist!«, hat sie verkündet. Als Kind dachte ich, ein »Pack« sei ein Rückenleiden.
    Bis eines Tages die Anordnung zur Reichsbeflaggung erging. Auf der Brüstung des Balkons im ersten Stock schwankend, versuchte der Hausmeister ein bescheidenes Fähnlein an Oma Luchterhands Blumenkasten festzumachen, während sie verbissen mit dem Besenstiel von oben nach ihm hackte. »Seinse vernünftig, Frau Luchterhand«, flehte er. »Machense keen Uffstand.
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