Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
sämtlichen Herdplatten: für Kaffee, einen Kohlkopf und die sechs Kartoffeln, die aus ihrer Einkaufstasche gerollt sind, zum Waschen und zum Befüllen der Thermoskanne, die wir später brauchen werden, im Keller. Abendlich ist es schon jetzt, obwohl draußen die Sonne scheint. Vor den Fenstern klebt Verdunkelungspapier, Licht kommt nur von zwei Stehlampen, die auch tagsüber brennen.
    Mit dem Gefühl, überall im Weg zu sein, setze ich mich an den Tisch. »Den Koffer schiebst du am besten unter die Bank«, meint Mutter.
    »Und dann? Irgendwo werde ich schlafen müssen. Hast du da zufällig auch einen Plan?«
    Die Worte fallen spitzer aus, als ich beabsichtigt hatte. Mutter knallt die Kanne auf den Tisch. »Jetzt hör mir mal zu, Philippa. Du hast mir einen halben Tag Vorlauf gelassen! Rufst aus heiterem Himmel an und sagst: Morgen komme ich zurück!«
    »Warum nicht? Du bist meine Mutter! Ich dachte, du freust dich!«
    »... freust dich? Sieh dich doch um! Sieh dich doch nur mal um!« Ihre Stimme kippt. »Ich hoffe, du hast eine Menge Schlaf auf Vorrat mitgebracht. Hier wirst du nicht dazu kommen, und das hat nichts damit zu tun, dass Olesia in deinem Bett liegt.«
    »Wer ist sie?«
    »Meine Haushaltshilfe. Ukrainerin. Frau Wahl ist in der Fabrik dienstverpflichtet.«
    »Du hast ...« Ich muss schlucken. »Du hast eine Fremdarbeiterin?«
    Wieder die falschen Worte. Mutter funkelt mich an. »Jawohl! Ich habe eine Fremdarbeiterin! Sie haben sie in Kiew aus dem Bus geholt, als sie ihre kleinen Brüder zur Schule brachte. Sie ist siebzehn und stirbt vor Heimweh.«
    »Ich will doch nur sagen ... wir hatten in Oschgau auch Fremdarbeiter«, antworte ich hastig und füge, weil das keine Erklärung ist, leiser hinzu: »Das ist doch ganz normal.«
    »Ganz normal?« Sie sieht mich lange an – so kommt es mir zumindest vor. Zwei Sekunden reichen, um ein unbedeutendes Häuflein Staub aus mir zu machen. »Das Einzige, was ich tun kann, damit Olesia nicht völlig durchdreht, ist ihr regelmäßig zu essen, ein sauberes Bett und ein paar kleine Aufgaben zu geben. Sei nett zu ihr, Fritzi. Sie spricht schon ein paar Worte Deutsch.«
    Ich war immer nett zu Fremdarbeitern.
    Nein, das sage ich natürlich nicht. Antonia hat das gesagt, gestern in Oschgau. Ich wünschte, ich müsste nicht gerade jetzt daran denken, wo mich ohnehin Tränen in der Nase kitzeln. Weil meine Mutter enttäuscht von mir ist, weil ein anderes Mädchen in meinem Bett liegt, weil ich noch keine Viertelstunde zu Hause bin und schon wieder hinausrennen möchte. Weil mir das Tageslicht fehlt. Weil Mutter mich endlich Fritzi genannt hat.
    Sie gießt uns Muckefuck in die Tassen und setzt sich mir gegenüber. »Wann machst du denn den Laden auf?« Ich frage das erstbeste Ungefährliche, das mir einfällt.
    »Gar nicht. Ich arbeite nur noch auf Bestellung. Wenn ich Stoffe bekomme, mache ich einen Rundruf, aber weiter als bis zur vierten Position im Adressbuch komme ich nie.«
    »Weil du gut bist«, stelle ich fest.
    »Nein. Weil der Bedarf von Emmy Göring und Magda Goebbels an immer neuen Roben naturgemäß Vorrang hat. Stell dir vor, die Ehefrau irgendeines kleinen Gauleiters leuchtet auf einem Empfang heller als die erste Dame im Reich!«
    »Und welche von beiden ist das jetzt?«
    Ein kleines Lächeln tritt in Mutters Augen. »Am Auftragsstand gemessen, die Goebbels. Sie war zeitweise in Ungnade wegen lästerlicher Bemerkungen über Fräulein Braun, darf aber inzwischen wieder beim Führer tafeln. Mir persönlich ist die Göring ja sympathischer. «
    »Mir auch. Weißt du noch, wie sie mir angeboten hat, sie Tante Emmy zu nennen? Ich hätte es schrecklich gern ausprobiert, heimlich natürlich, aber du wolltest und wolltest ja nicht nach nebenan gehen ...!«
    Mutter lacht zum ersten Mal und ich erlebe es wie einen kleinen Triumph. Seine Früchte zu ernten ist mir allerdings nicht vergönnt, denn kaum verspricht es zwischen uns gemütlicher zu werden, klingelt auch schon das Telefon.
    Mutter steht auf. Mist! Wieso funktioniert ausgerechnet das Telefon noch, während auf Wasser und Strom und alle notwendigen Dinge keinerlei Verlass mehr ist?
    Aber ich werde keine Gelegenheit auslassen, Punkte zu machen. Ich nehme ihre Kaffeetasse und folge Mutter ins Wohnzimmer, will ihr die Tasse mit einer selbstverständlichen Geste ans Telefon reichen und mich anschließend – aufmerksam und unaufdringlich zugleich – zurückziehen. So eine angenehme Gesellschaft, meine Fritzi.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher