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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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Wollense, dit die mit Ihnen wegfahrn?«
    Fortan hatte ich ein entschlossenes siebzigjähriges Gesicht vor Augen, wenn in der Schule von feindseligen Elementen die Rede war, von »Schädlingen« und »Wehrkraftzersetzern«, die Volk, Vaterland und geliebtem Führer in den Rücken fielen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass der Führer Oma Luchterhand, ihren Besenstiel und ihre Perücke fürchten musste.
    Ich erinnere mich nicht, wie die Geschichte mit der Flagge ausgegangen ist. Aber jetzt sitzt Oma Luchterhand in ihrem großen Ohrensessel und heult. »Nu hamses doch jeschafft, Fritzi. Ick steh hier nich mehr uff. «
    »Wenn du wolltest, könntest du, Oma Luchterhand.«
    »Dit war mal. Nu isset wirklich dit Kreuz. Die Frau Jräfin hievt mir jede Nacht ins Bett.«
    Oma Luchterhand ist die Einzige, die noch »Frau Gräfin« zu Mutter sagt, obwohl die seit über zwanzig Jahren keine mehr ist. »Sei so jut und jib ma de Tasse rüba«, ächzt sie.
    Was Oma Luchterhand zum Leben braucht, steht auf einem Teewagen in Reichweite: Thermoskanne, Essgeschirr, Volksempfänger und ein Sortiment bunter Pillen. Ihre Tagesration Brot – zwei Scheiben und ein Eckchen Fett – hat sie noch gar nicht angerührt. Das Brot wellt sich schon an den Seiten.
    Oma Luchterhand heulend, das ist etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.
    »Soll ich mal die Fenster aufmachen?«, schlage ich betreten vor. »Ein bisschen frische Luft?«
    »Watt’n für Fensta? Dit sind nur noch Pappen, Kindchen. Un frische Luft hamwa seit dreiunddreißig nich jehabt.« Ihr Kinn zittert, voll Wut und Trauer rührt sie Kaffeeersatz ins heiße Wasser und schlürft. »Kaputt. Allet kaputt. Dit hamse nu von der janzen Heil-Schreierei. Von mir aus hätt dit viel schnella jehn können.«
    »Pass bloß auf, dass dich niemand hört, Oma Luchterhand.«
    »Wieso? Du hörst mir doch! Oder biste ooch blind und taub jewordn ?«
    Wie auf Stichwort macht es »Klick« und die Lampen gehen aus. Oma Luchterhand und ich sitzen im Dunkeln. »Vorwürfe mach ick dir keene«, sagt sie. »Ick jehör ja ooch zu denen, die Schuld ham. Ick hätt mir nich eenfach so vadrückn dürfn.«
    Irgendwo draußen erhebt sich ein heiserer, klagender Ton, verstummt einen Augenblick und setzt von Neuem ein. Oma Luchterhand streckt sich nach dem Volksempfänger. Der knistert nur, der Drahtfunk holt noch Luft. »Nu läufste besser«, sagt sie. »Voralarm. «
    Ich weiß. Ich erinnere mich. Vor der Kinderlandverschickung habe ich so viel Fliegeralarm erlebt, dass es schon lästig wurde;irgendwann drehte ich mich nachts im Bett nur noch um und dachte: Ihr traut euch ja doch nicht!
    Jetzt trauen sie sich, und wie! Sobald Oma Luchterhand aufsteht, werden wir in weniger als drei Sekunden an der Treppe sein.
    »Keller? Wat soll ick da?«, meint Oma Luchterhand. »Sterben kann ick ooch hier, wo ick mir auskenne.«
    Das Radio knackt und sagt jetzt doch etwas. »Von Westen ein Feindverband, rund hundertzwanzig Jäger und Bomber, Kurs Nordost ...«
    »Jetzt jeht als Erstet die Kleene runta«, bemerkt Oma Luchterhand und bekommt einen Fernblick, als wären die Fensterpappen mit einem Mal durchsichtig geworden. »Olesia. Unter ’ne Decke, damit se keena sieht. Is ja jejen die Vorschrift, und uffe olle Bechtolf muss ma uffpassen. Aber die Frau Jräfin lässt keene vabrennen, die Frau Jräfin doch nich.«
    »Oma Luchterhand, steh auf!«, beschwöre ich sie.
    »Komm morjen mal erzähln, wie dit war«, brummt sie. »Inner Verschickung. Tät mir interessiern, ob ick dir übahaupt noch kenne.«
    »Na gut. Wenn du nicht gehst, dann bleibe ich eben auch.«
    Ich setze mich wieder. Nur meine Stimme muss hinausgerannt sein; das hohe Piepsen, das aus meinem Mund kommt, kann unmöglich meins sein.
    Dabei fängt es an, meine Geschichte zu erzählen: »Ich war in Oschgau, Ostpreußen. Zuerst einquartiert in einer ehemaligen Schule, jeweils zu sechst auf einem Zimmer und nicht alle aus Berlin, obwohl wir ursprünglich als Gruppe ankamen, aber sie mischen ja bei der Ankunft neu, wegen der Volksgemeinschaft ...«
    »Nu jeh schon, Kindchen. Wat sein soll, soll sein.«
    »Auf dem Bett über mir lag Antonia. Wenn ich jemand Freundin nennen kann, dann sie. Antonia aus Rudow. Obwohl man anfangs kaum Zeit zu zweit hatte ... Wecken, Waschen, Bettenmachen, Stubendienst, Gesundheitsappell, Fahnenappell, Frühsport,Unterricht und nachmittags das Kulturprogramm der Lagermannschaftsführer. Heimnachmittag, politischer Wochenbericht, Werkarbeit,
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