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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Autoren: Siegfried Lenz
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ein Lederriemen schneidet: Warten Sie, Herr Paustian, ich komme. Nur eine Postkarte für Sie heute, Frau Stasny. Nicht mehr? Das ist alles. Morgen, Herr Paustian, Sie werden sehn, morgen. Geburtstag? Examen: mein Mann macht heute das mündliche Staatsexamen. Herzlichen Glückwunsch. Es hat vielleicht gerade erst begonnen. Ach so. Also, Jans Lieblingsonkel drückt beide Daumen für das bevorstehende Examen, er hat bereits ein Stück Holz unterm Messer, aus dem er für den Kandidaten eine besondere Figur »erlösen« will, es soll ein Geschenk sein, das er wegen seiner Gliederschmerzen allerdings nicht selbst vorbeibringen kann; er wird es der Post anvertrauen. Sie steckt die Karte in die Hängetasche, hüpft jetzt, die Tasche schlenkernd am Arm, die Treppen hinab, begegnet im Eingang ausgerechnet der mißmutigen Vogelscheuche, die ihren zweirädrigen Marktkarren ins Haus bugsiert und auch diesmal nicht zurückgrüßt, den Gruß vielmehr nur mit Erstaunen zur Kenntnis nimmt, was Senta nichts ausmacht, da sie sich in den vierzehn vergangenen Monaten daran gewöhnt hat, von ihrer unmittelbaren Flurnachbarin nicht gegrüßt zu werden. Sie tritt hinaus in die Sonne, schließt die Augen, hört Charles fragen - oder doch eine Stimme, die Charles gehören könnte -; Was weißt du eigentlich über Wielands Humanitätsbegriff?, und spürt gleichzeitig den Sog, als die heiße Wand der Straßenbahn an ihr vorbeifahrt und den Staub aus den Schienen fegt. Das Programm. Senta überquert eine Hauptverkehrsstraße; da ist die Entstehung und Beherrschung mannigfacher Bewegungen zu beobachten: schneller Antritt bei leicht vorgebeugtem Oberkörper, verzögerter Schritt, der lang aus den Hüften fällt, rasches ungefährdetes Schreiten, wiegendes Verharren, um einen Laster vorbeizulassen, ein letzter Sprungschritt, der den Bürgersteig gewinnt. Möbel-Marquardt, Tee-Müller, BlumenPreißler: daß sie ihre Namen jetzt schon den Waren unterordnen, die sie verkaufen; wenn einer nun mit Geflügel handelt und Krebs heißt? »Zur Kachel« heißt das Lokal, eine ausgetretene Kellertreppe führt hinab. Senta öffnet die Tür, schiebt eine braune Filzportiere zur Seite: hier also will Jan mit ihr feiern, in einer dieser kühlen Nischen, deren Wände mit Photographien von berühmten Kochen bedeckt sind, denen »Die Kachel« Endstation einer Karriere war oder Empfehlung zu steilem Aufstieg bedeutete. Auf jedem Tisch liegt eine elektrische Klingel. Sie wünschen? Ein älterer Kellner, graue Augen, fleischiges Gesicht, macht sie darauf aufmerksam, daß erst um zwölfuhrdreißig geöffnet wird, sie hat es bereits gelesen, sie will lediglich bestätigen, was ihr Mann mit dem Geschäftsführer ausgemacht hat: einen Tisch für zwei Personen, auf den Namen Stasny. Einen Augenblick. Der Kellner holt eine Kladde, legt sie auf den Tisch, beugt sich über sie und beginnt unter leichtem Schnaufen zu lesen; er trägt orthopädische Schuhe. Vor Sentas Augen beginnen kleine rote Punkte auf- und abzusteigen, sie formieren sich zu einer Spirale. Stasny, sagten Sie? Ja, da ist etwas bestellt. Wir möchten gern etwas für uns sein, sagt Senta, wir möchten etwas feiern. Selbstverständlich. Nummer Vier. Der Kellner mustert sie mit freimütiger Gleichgültigkeit, es kostet sie Mühe, seinen Blick zu ertragen, sie hat es nicht vor, doch sie sagt: Es soll eine kleine Examensfeier werden. Nummer Vier ist reserviert, sagt der Kellner und folgt ihr auf den fensterlosen Gang, am Büro vorbei, aus dem jetzt der Geschäftsführer tritt und sich erkundigt, ob alles zur Zufriedenheit steht. Der Kellner berichtet und blickt auf Senta, und zum Schluß fragt er immerhin: Das medizinische Examen? Germanistik, sagt Senta. Ach so.
      Sie steigt die Treppe zur Straße hinauf, die Sonne trifft ihr Gesicht. Was können Sie mir über die naturwissenschaftliche Begrifflichkeit in Büchners Werk sagen? Wird sie gerufen? Setz dich, Senta, sagt der Mann in den Reitstiefeln, er verschwindet im Reisebüro, und die Schäferhündin setzt sich dort, wo er sie angebunden hat, und beobachtet hechelnd die Bühnenarbeiter, die aus einem Nebeneingang des Theaters Dekorationen zu einem Lastwagen tragen. Das Theater geht auf Reisen, vielleicht werden die Dekorationen auch nur ausgeliehen; zu welchem Stück könnten sie gehören, diese weißen, zierlichen Möbel, dieser lichte Wald, der kein deutscher Wald ist?
      Senta wischt sich mit einem Tempotaschentuch den Schweiß von der Oberlippe. Sie nimmt
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