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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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Ganze ein Ministrantenausflug wäre. Ja, wir begannen vielleicht auch noch zu singen. In den Pausen erzählten wir uns Geschichten, vom Leben, und waren in Fahrt. Wir hatten Appetit schlechthin. Wir blinzelten in der Sonne, cremten uns ein, träumten. Freuten uns aufs Abendessen. - Saßen wir beim Essen, waren wir schon ganz gierig aufeinander. So folgte eine Gier der anderen. Wir waren von einer unbeschreiblichen Gier und Geilheit auf der Welt. Und standen wir in unseren Getreidefeldern, kam bald der Durst. War dieser aber gestillt und das Glas an seinen Platz im Schatten unter dem Birnbaum zurückgestellt, und waren wir an unseren Platz im grellen Sommerlicht zurückgekehrt, kam die Sehnsucht nach dem Schatten und das Verlangen, auszuruhn, zu schlafen ohne Ende. Ohne Ende sollte es sein, denn unsere Sehnsucht war ohne Maß. Der Heuberg, die Grenze, war nur ein erster Anhaltspunkt. Unser Blick streifte über den Heuberg, die Heuberge hinweg, die blauen Bänder winkten: Dort wollten wir sein und über dort hinaus. Sie wurden immer blauer, bis es Abend war und Nacht. Längst waren wir nach Hause zurückgekehrt und hatten uns an den großen Tisch gesetzt. Damals waren wir nie allein: Taubenfüße müssen herhalten, wenn ich sagen soll, wie es war.
     
    An den Anfang der Erinnerung das Staunen, das Staunen, dass ich da gewesen sein werde, ich, und nicht der Schmerz, der Schmerz allein. An den Anfang des Lebens aber den Schmerz. Im Anfang war der Schmerz, und ich regte mich. Es tat weh, und ich war da. Es blendete mich, und ich schrie. Ich schrie und war da. Lag da und schrie und lebte. Schreien und leben war eins.
     
    Andere im Gefängnis, die Gefangenenältesten, die schon alles kannten, kamen an unser Bett und kümmerten sich um uns. Sie gaben uns zu essen, wenn wir schrien, sie deuteten unser Schreien als Hunger und gaben uns zu trinken, als ob sie gewusst hätten, was uns fehlte. Die Stubenältesten unserer Existenz trösteten uns, indem sie unser Geschrei verneinten. Sie nahmen uns mit ihrem Ist-ja-schon-gut! auf den Arm. Sie nahmen uns mit Sätzen auf den Arm, die wir nicht verstanden. Wir schrien. Sie wiesen uns ein. Sie wiesen uns in unsere gemeinsamen Wände ein. Bald sprachen wir ihre Sprache, die wir nicht verstanden. Wir plapperten einfach die Wörter nach, wie wir die Dinge, die sie uns in den Mund schoben, schluckten. Wir wurden auf die Beine gestellt. Bald standen wir aufrecht im Leben. Auch sagten wir Mamma. Wir sagten einfach etwas, und es war Mamma, weil wir nicht mehr mit anhören konnten, wie die Armen auf uns in unserem Gitterbettchen einredeten: »Sag Mamma!« Und wir standen mit einem Mal, weil wir keine Lust mehr hatten, zusammenzubrechen, hinzufallen oder immer nur auf irgendwelchen Armen zu sitzen oder zu liegen.
    Ich staune, was zuerst war: ein erstes Stehen, das sich bald zum Gehen wandte, oder ein erstes Wort, an das ich mich nicht erinnern kann. Wodurch richtete ich mich am meisten ein, hier, im Leben, meine ich?
    Im Laufstall machte ich meine ersten Gehversuche, ich weiß. Einst war ich so groß wie eine Schwertlilie. Die Sprache war meine erste Fremdsprache. Mit dem Wort Mamma machte ich mich auf den Weg.
     
    Wir hatten (also) Hoffnung. Diese grausame Hoffnung!, die nun einmal in uns ist, dieser Hoffnungsschmerz, der uns quält und am Leben hält, das heißt: an einem Ort zurückhält, wo irgendwann zum Beispiel schon ein Hühnerauge den Mann aus dem Schlafzimmer treibt, ein Hühnerauge, eine Krampfader oder so viel wie nichts aus uns getrennte Leute macht. Am Ende kommt ein wohlbestallter Theologe daher, der uns sagt, dass wir nicht tiefer fallen können als in die barmherzige Hand Gottes. Wir flüchten uns in die Leidenschaften. Wir wählen die entfernteste Wissenschaft: präkolumbische Figuren. Wir sagen: Kunst. Wir sagen: 7. Jahrhundert vor - (Terminus ad quem). Wir haben Holzfiguren vor uns stehen und wissen nicht, ob sie einst Götter oder Spielzeug waren. Wir wissen nur: Es handelt sich um Grabbeigaben. Wir wissen nur, dass man sie aus Gräbern geraubt hat. Wir wissen nur, dass wir wissen, dass wir nichts wissen.
     
    An dieser Stelle sollte ich noch etwas über unsere Einsamkeit sagen.
    Auf dem Weg zur Zwangsversteigerung unseres Anwesens, meiner Heimat (so wird die Geschichte endlich zu ihrem vorläufigen Ende kommen), kam ich an unserer kleinen Dorfkirche (aus dem 9. Jahrhundert nach) vorbei. Da war gerade Abendmesse. Eine Alte mit Kopftuch hatte den Türgriff in der Hand, ich
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