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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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(nach und nach, gewiss, kaum bemerkbar, auf Taubenfüßen), alle meine Völkerballfreunde und -freundinnen, alle meine Doktorspielfreunde und -freundinnen, Entchen.
    Aber das Einzige, das sie von mir behalten haben, ist, dass sie nichts behalten haben - oder vielleicht, dass ich noch in die Hose machte, als sie schon bei der Liebe waren.
    Da ich nun (zurzeit) von den Grabreden lebe, ich ein Wanderer, wohlgemerkt (einen Ausflug in die Pharmaindustrie als deren Versuchskarnickel einer Firma in Neu-Ulm habe ich auch schon hinter mir, ist auch schon fast vergessen), rutscht mir der Tod (oder was wir dafür halten, der Tod, dessen wahren Namen wir nicht kennen) immer wieder heraus, mitten ins Leben.
    Franz Sales könnte sich nicht ausdenken, was aus mir geworden ist, dass ich heute auf diese - kleine - Weise lebe, nachdem alles so vielversprechend begonnen hatte (wenn ich einmal die Vorgeschichte abziehe). Die anderen, meine lebenden und verstorbenen Verschwundenen und Vermissten - könnten sie sich das ausdenken? - Gianna vielleicht am ehesten: Für sie war immer alles möglich. Sie hatte schließlich den Sprung von der KPI in die Immobilienbranche geschafft. War mein Weg demgegenüber nicht viel beschränkter? Mein Weg: konsequenter? Als Priester hätte ich zwar keine Grabreden halten, aber doch auch gelegentlich auf den Friedhof müssen! - Ich bilde mir auch ein, dass keiner etwas weiß von mir. Ich lasse ausrichten, dass es mir gutgeht. Gelegentlich fahre ich mit meinem 190er (Leasing, gebraucht) nach Hause, um zu zeigen, wie gut es mir geht. Eine Kindergartenfreundin fragt: »Wo sind deine Kinder?« Ich frage sie nach der (geliebten) Kindergartenschwester. Die sei gegen ihren Willen nach Nordbaden versetzt worden und bete den Rosenkranz mit, der von einer Tonbandkassette komme. Das schreibt sie uns Kindern von einst. Ich frage sie nach dem Kindergarten.
    Unser Kindergarten? Ist geschlossen.
    Wir atmen bis zuletzt. Was uns am Leben hält, ist nichts als Atem, zusammen mit dem kaum beachteten Herzschlag. Dann soll uns der Tod holen. Aber schon vom Kindergarten musste ich doch zu Fuß nach Hause, mit den anderen, die dieselbe Richtung hatten wie ich. Der Kindergarten ist nun geschlossen. Ein Ordensschwestern- und Kindermangel (wie viel das eine mit dem anderen zu tun hat, weiß ich nicht) hat dazu geführt. Mit der gesunden Langeweile, dem Anreiz zu den größten Leistungen (sagte Lucy), war es lange aus.
    So kam ich kaum noch morgens auf die Beine und in die Kleider, im Bett liegend häufte sich die anschwellende Erinnerung an den Unsinn, und mir fiel Angelika ein, ich hatte sie beim Semestereröffnungsgottesdienst kennengelernt, das heißt beim anschließenden Semestereröffnungsabend. Bald zwang mich Angelika, das war zum Zeitpunkt der Erinnerung keine drei Jahre, an einem vierten Adventssonntag wieder einmal, in der Bahnhofsapotheke eine Packung Pariser zu kaufen. »Für uns«, sagte sie - wieder einmal. Sie hatte ja recht. So wartete sie vor der Apotheke auf mich, scheute sich nicht, durchs Fenster ... Aber wie murrte sie, herrschte sie mich an, als ich nur mit einem Dreierpack herauskam. »Das soll alles sein!« Sie herrschte mich an, weil ich selbst wegen dieser geringen Menge errötet war. Und wie sie mich ausschimpfte wegen meines wiederholten Errötens; und wie sie es genoss! »Esel!«, hatte sie mich schon beim ersten Mal genannt. Sie legte Hand an mich. »Mai, wie ungeschickt du bist!«, höhnte sie. Aber wie ich wuchs! Und wie ich in den Pariser hineinwuchs! Und wie (schon beim ersten Mal mit ihr) die Vorhaut platzte! Und wie schließlich die Ledersitze verspritzt waren! Und wie schön die Liebe war!
    Und wie das Leben mit dem Sterben zusammenfiel!
    Ich wusste keinen anderen Ausweg mehr, als mir das Leben zu nehmen oder mich dieser Welt, Angelika gegenüber für tot zu erklären und vorerst nach Hause zu gehen.
    Dann machte ich mir, weil ich nicht wusste, was ich noch machen sollte, einen Tee und stellte die Kanne auf Grönland. Das war der einzige weiße Fleck auf meinem abwaschbaren Tischuntersatz der Firma Müboplast, der mir die Welt zeigte. Die kompletten USA verschwanden unter meiner Meißner Tasse. Und dann sah ich Feuerland.
    Und noch im Nachhinein verlangte mich in diesem Restsommer nach dem Tod, dem süßen, dem Einschlafen nach langer Müdigkeit, und ich liebte den Wald des Zimmermanns und seine Bäume.
     
    Am anderen Morgen fand ich in der Post meiner fast schon im Souterrain gelegenen
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