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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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hatte, allein Mutterfotografien geblieben waren, bis hin zu den Beerdigungs- und Grabfotos, die überall herumstanden und herumhingen, hatte er sich mir zugewandt. Ich hätte sagen können: Nun stürzte er sich auf mich. Ich tat so, als ob ich es nicht merkte. Er tat auch so, als ob er es nicht merkte. Wir taten so, bis wir uns alle für immer aus den Augen verloren.
     
    Ein weiterer Mensch, der verschwand, war Gianna.
    Sie hat mir etwas Italienisch beigebracht. Zu meiner Ehre muss ich sagen, dass ich sie, nachdem ich von der Ewigen Stadt weggegangen war, immer wieder gesucht habe, einzig die Erinnerung konnte mir dabei helfen. Ich hatte ja sonst nichts mehr von ihr, nicht einmal mehr eine gültige Telefonnummer, sie ist mir heute bis auf die Erinnerung, meine zweite Gegenwart, verloren. Zu meinen Zeiten blühte sie, ich habe sie nur blühend gesehen. Und so bleibt sie.
    Gianna hatte es geschafft, bis in den Vatikan vorzudringen, bis zu uns zukünftigen Priestern. Sie kam zu mir - umsonst. Wir hatten nichts voneinander. Alles, was wir voneinander hatten, war auch nur, dass wir nichts voneinander hatten, außer dass wir uns etwas anfreundeten und zweimal eine Art Ausflug in die Gegend von Terni machten - und an den Trasimenischen See. Ein griechisches Gesicht hatte sie. Ihre Vorfahren kamen aus Tunesien oder der Türkei. Ihr Vater lebte jetzt in Australien, die Mutter in Palermo; und sie selbst war in New York geboren - oder in Neuseeland, ich weiß nicht mehr. Ein griechisches Gesicht, der Unterricht war von Anfang an ganz italienisch, die Schüler bayerisch, wenn ich mich nicht dazuzähle, (korrekterweise) altbayerisch waren sie. Sie brüsteten sich in diesem Unterricht bald mit ihrem rollenden R und der angeblichen Verwandtschaft des Bayerischen mit dem Italienischen und mit ihrem altbayerischen Vorteil. Dagegen trumpfte ich mit meinem klaren A auf und warf mehrfach hintereinander mein »Abraham a Sancta Clara« in den Raum, was sich auf Bayerisch wie die erste Variation von Drei Chinesen mit dem Kontrahass anhörte: »Obrohom o Soncto Cloro« hörte ich die ganze Zeit. Wie sie mich nachäfften! Auch wenn mein R nicht rollte, sondern krächzte, wie eben ein alemannisches R, so warf ich doch immer wieder mein alemannisches A in den Raum und ließ durchblicken, dass ich diesen Figuren im Französischen überlegen ... und - außerdem - mit Heidegger und Abraham a Sancta Clara! - verwandt sei.
    Wir taten so, als ob wir zusammen Italienisch lernten, was tatsächlich nie geschah, gleichgültig, ob wir aus dem Bayerischen Wald kamen oder nicht. Das Italienische war für uns alle ein unmögliches Ziel. Bald flüchteten wir uns in andere Gegenden, ein Umzug stand an. Gianna zog mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter Uha (von Uljanow, dem Namen Lenins) vom Fuß des Testaccio zum Monteverde Nuovo. Sie brauchte Handlanger. Eine ganze Reihe zukünftiger Geistlicher (unter ihnen ein zukünftiger Bischof) half den beiden (niemals rechtlich Verheirateten) dabei. Wir sehen, wie großzügig Rom war, bei den Protestanten hätte es so etwas nicht gegeben, ich weiß. Der Haushalt stellte sich bald als Kommunistenhaushalt italienischer Provenienz heraus, bedeutete also gewöhnlich nicht viel mehr als etwas nördlicher die Folklore, die es so in Italien glücklicherweise nicht gab. Wir schleppten die Bandiera rossa, die Bilder von Palmiro Togliatti und Gramsci von der einen Wohnung in die andere. Am Abend des Umzugs setzten wir uns auf den Boden. Giannas Mann griff zur Gitarre, und wir sangen die Bandiera rossa und die entsprechenden Lieder, die italienischen Partisanenlieder, die alle sehr schön waren: außerdem freilich Questa Mattina mi son alzato: o bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao. Und im Herrgottswinkel hing halt die Bandiera rossa. Das klang nicht so schlimm wie die Rote Fahne. Die Bandiera rossa konnte ich vor meinem Gewissen vertreten. Damit konnte ich als zukünftiger Priester leben.
    In den Vatikan war Gianna über einen Onkel gekommen, einen Geistlichen der mittleren Ebene, immerhin schon Titularbischof und mit dem Recht auf ein Grab in der Kirche. Ich halte diesem Onkel zugute, dass er wenig oder gar nichts vom Treiben seiner Nichte wissen konnte oder wissen wollte. Auch hier galt in Rom als oberster Grundsatz die Toleranz des Nichtwissens. Und erst ihr Pelzmantel, in den gehüllt sie an meinem neuen Wohnort erschien! Es war Anfang Oktober, fast noch Spätsommer; sie wollte mir nur zeigen, wie kalt es bei
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