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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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und die Eisentür war hinter ihr automatisch zugegangen. Ich stand und sah, wie sie ihren Wattebausch in den Alkohol tunkte und von der Seite auf mich zukam und wartete auf das Ende, schon mit jenem Geruch in der Nase. - Da kam er mit seinem Messerchen, der badische Kolonialbeamte, der großherzogliche Sanitätsrat Dr. med. vet. Eiermann, noch aus dem Ersten Krieg. Und und und ... seine willfährige Krankenschwester machte sich nichts aus allem, so wenig wie unsere Hebamme, die einst mit ihrer Schere dem ersten Einssein ein Ende setzte.
     
    So saßen, lagen und schauten wir nun, nebeneinander, im Gras. Ich neben ihnen. Wie ich neben ihnen lag! Das war alles.
    »Aber wo ist dein Muttermal?«, fragte nun Tina, als hätte sie es nicht schon längst gesehen, dass nichts mehr zu sehen war.
    »Das hätte ich auch gerne gewusst«, sagte ich. Nichts war mehr da, und wir lachten.
    Ich erzählte nun meine Geschichte mit meinem Muttermal, und mir blieb nichts übrig, als mit ihnen lachen zu müssen. Als wäre aus meinem Leben ein Witz geworden.
    »Die Stelle ist aber sehr schön verheilt!«, sagten sie nun, beide, nacheinander, »doch - sehr schön verheilt!«. Ja, und mein Schmerz war über mein Leben verteilt.
    Und nun verglichen wir unsere Wunden, als müssten wir zärtlich sein zu ihnen.
    Fast nichts war mehr da. Genau wie von der ersten Liebe, die von mir so sehr als Glück gedacht war, sodass ich beinahe gestorben wäre. Eine unmögliche Geschichte von Anbeginn, und das Traurigste daran war vielleicht für mich, dass sie es nicht einmal mehr wussten. Was ist »lieben«? - Ist es ein Tu-Wort? -Was ist »Liebe«? - Bevor ich darüber nachdachte, wusste ich es noch, Summe meines Lebens. - Nichts lässt man uns, nicht einmal den Schmerz, und eines Tages wird alles vergessen sein.
    Das war alles. Wiedersehen wollte ich sie, und ich setzte mich in meinen Wagen und fuhr davon, als wäre es nach Hause.
     
Vom Verschwinden auf Taubenfüßen
     
    Dann kamen auch schon wieder der Winter und der Wind, und sie machten sich nichts aus allem.
    Immer noch habe ich die Hoffnung auf eine schönere Fortsetzung, an anderem Ort? Wer weiß.
    Mit ganz anderen Menschen als am Anfang: gewiss. Die Hebamme? Sie hat mich mit einer Zange ins Leben geholt. Sie hat mich mit einer Schere von meiner Mutter getrennt. Sie hat mich zum ersten Mal gewogen. Die Kindergartenschwester Maria Radigundis? Ihre Haare unter einem Schleier, nie gesehen. Ihre Sommersprossen? Von denen durfte ein Kind nicht reden. - Die Mutter?
    Mit ganz anderen Menschen als am Anfang ...
    Wir gehen tausendfach durch den Kaufhof. Wir tragen uns mit uns herum und geben den Glauben, dass alles gut wird - so sagen meine Kronzeugen: die Hebamme, die Kindergartenschwester, der Arzt beim Abstellen der Geräte, der Priester bei der Letzten Ölung -, nie ganz auf, ungeachtet dessen, was wir ein Leben lang sagen und denken, und ganz gegen jegliche Vernunft. Mit ganz anderen Menschen um uns herum als am Anfang, ist am Ende einzig unser Glaube, dass alles gut wird, der alte. Anfangsmenschen, Zwischenmenschen, Endmenschen, von denen wir es (dass alles gut wird) noch einmal gesagt bekommen, ob wir es noch hören oder nicht - und dann versickern wir, anders und unbeschreibbarer als das Wasser im Sand oder der Sand selbst. Wir werden uns aus den Augen verlieren. Doch genau an der Stelle (der Geschichte), wo wir sagen müssten: »Es ist alles aus«, sagen wir »Es wird alles gut«, und einige von uns weinen vielleicht noch dazu.
     
    Es waren Menschen, die ich gewann und verlor, durch den Tod, aber auch vorher schon, indem sie einfach verschwanden, indem ich verschwand, immer wieder, vom Land in die Stadt ziehend, vom Westen in den Osten, von Norden nach Süden, über dieses und jenes Gebirge. Ich lernte bald Französisch. Kleine, charmante Sätze halfen mir über das Geheimnis, über die sogenannte Leere hinweg: C'est la vie. - So verschwand schon, bevor ich diesen Satz sagen konnte, meine Kindergartenfreundin. Eine Hand zog sie eines Abends um fünf vom Kindergartentürchen weg in eine andere Richtung; und ich wusste nicht, dass dies »das letzte Mal« und »c'est la vie« war. Nur keine Tragödie! Nur kein Theater! Ihren Namen habe ich gewiss nie vergessen. Immer noch verbinde ich ein Mädchen mit diesem Namen, noch nicht ganz sechs Jahre, das aus meinem Leben verschwand, anscheinend ohne jede Notwendigkeit. Als ich sie wiedersah, stand sie mit einem etwa dreijährigen Mädchen vor mir, das Oma
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