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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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nicht gesehen, und jetzt musste es ganz schnell gehen.
    Und als wäre es nicht genug gewesen, hatte er mich auch noch gefragt, ob ich mitkommen wolle, zum Schwimmen, das fragte mich Jonnie, der mitbekommen hatte, wie ich diese Verabredung mitbekommen hatte, auf dem Weg zum Schiffen. Auch er war ganz der Alte geblieben. Und ich konnte nicht »nein« sagen. Niemals, wenn sie mich etwas Schönes fragten.
    Als wir wieder aus dem Wasser kamen, lachend, schüttelten wir, als wären wir noch junge Hunde, das Wasser von uns ab.
    Auch Tina, die uns dabei beobachtete, wie wir aus dem Wasser herauskamen, und vielleicht verglich, lachte, herzzerreißend, das schwöre ich beim Blau des Lausheimer Weihers und bei meiner Erinnerung und meinen Augen, und wir setzten uns zu ihr an die alte Stelle, unseren Platz, der uns einst so viel Freude gemacht hatte, und so weiter.
    Da saßen wir nun, denn ich hatte nicht »nein« sagen können, und war wie ein Debütant zur verabredeten Uhrzeit am Lausheimer Weiher, wo man auch schwimmen lernen konnte, erschienen, was heißt erschienen: Sie waren es in den Augen von einem, der es nur bis zum Voyeur schaffen würde ... so dachte ich, nein, sah ich, der Voyeur und sein Verlangen. Da saßen wir nun, zusammen auf unserem mitgebrachten Teppich, jener Rosshaardecke, zu der wir zu Hause »Teppich« sagten. Auf der einen Seite Jonnie und Tina, auf der anderen ich und meine Augen, als wäre ich jener Wüstling aus jenen Zeitschriften von einst mit den Querbalken über den lebenswichtigsten, richtigsten ... Stellen.
    Da saßen wir nun, und bald wies Tina auf die Narbe, da, wo mein Muttermal gewesen war, am Oberarm links, an der äußersten Stelle meines Lebens, an der linksten, gleich neben der einstigen Schnittstelle von Dr. Eiermann. »Da war doch etwas!«, sagte sie.
    »Die Stelle ist aber sehr schön verheilt!«, sagten sie wie im Chor und lachten, und hatten nun wegen dieser Koinzidenz der Gedanken noch einen Wunsch frei ... Und ich suchte auch sogleich mit meinen Augen und Erinnerungen die entsprechende Stelle bei ihnen ab, die von der Messerle-Impfung, wie wir es nannten, unserer ersten Angst, der Angst vor dem Tod herrührte, sodass wir ein erstes Mal beinahe gestorben wären. Da waren wir noch keine zwölf, und Kinder gibt es immer - »Künder jibt et Ummer«, sagte, als wir Kinder waren, der gute alte Dr. Adenauer, Gott hab' ihn selig. Wie er sich täuschte! Es war im Hof zwischen Heideggergymnasium und Fleckviehhalle in Meßkirch vor dem Impfwagen, wo wir im Spalier standen und an der Reihe waren, ein Kind nach dem anderen, doch getrennt nach Geschlechtern. Erst die Mädchen und dann wir. Es hieß Pockenschutzimpfung, das Gesundheitsamt kam aus Stockach angefahren, in einem Wagen wie die mobile Besamungsstation, und brachte uns etwas Gesundheit bei, der Sanitäts- und Hygienerat Dr. Eiermann, einst Rassenforscher und Ritterkreuzträger! Kaum nach jenem 8. Mai sollten wir schon wieder gesund sein und für das Leben ertüchtigt werden, als ginge es ewig so weiter. Ich wunderte mich etwas, als ausgerechnet er bei seiner Einführung in den Schmerz des Lebens - es war bei seiner Vorbesichtigung von uns, vier Wochen vor dem entscheidenden Datum, vor ihm in der Turnhalle nach Geschlechtern getrennt zum Appell aufgestellt - das Wort Gesundheit fallen ließ. - Gesundheit? Zukunft? - Hatten wir nicht gehört, dass wir zum Sterben auf der Welt sind? Wussten wir das nicht von unserem unvergesslichen, unvergessenen Pfarrer A. D. und unserem ortsheiligen Maler und Ausmaler von St. Martin, Meister M. H.? Hatten wir das nicht schon zum ersten Mal gehört, kaum dass wir geboren waren, noch bevor wir eine dieser Sprachen verstanden?
    Dass das Leben mit dem Sterben zusammenfällt wie in einem Roadmovie - war das nicht meine Erfahrung vom Licht der Welt an?
    Wir hatten Todesangst, ja, es war eine Meßkircher Todesangst, eine Meßkircher Spezialität, so wie der Katzendreck am Schmutzigen Dunschdig, ja, es war eine Mordstodesangst, so standen wir in Reih und Glied, da die Tür des Besamungs-, Impf- und Gesundheitswagens quietschend aufging. »Hinauf mit dir! - In den Wagen!«, hörte ich. Die Krankenschwester zeigte auf mich in meinem Unterhemdchen, als fröre ich bis in die Seele, so standen wir da und machten uns Mut und lachten, und ich begann zu singen. Immer, wenn ich sang, lachten sie. Jawoll, Herr Sanitätsrat!, als wäre Alkohol im Spiel gewesen: Dahin!, wies sie mich mit ihrem grobschlächtigen Finger,
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