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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Autoren: Josef H. Reichholf
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dem Härtetest der Kritik stellen müssen wie jede Theorie. Aus der vielfach aufgefächerten Betrachtungsweise geht hervor, dass bisher vieles in vermutlich viel zu begrenztem Rahmen betrachtet worden ist. Die (europäische) Antike war nach heutigem Wissen weit weniger auf den europäischen Südosten und den Vorderen Orient beschränkt als die beiden folgenden Jahrtausende. Unser Geschichtsbild ist viel zu eurozentrisch. Diese zu enge Sicht schränkt die Deutungen ein. Ohne Berücksichtigung der chinesischen werden sich die europäischen Drachen nicht verstehen lassen. Ohne Bezug auf Zentralasien die Nutzung und Verarbeitung von Gold und Edelsteinen auch nicht. Nur ausnahmsweise verweist ein Naturprodukt direkt auf seine Herkunft. Einer dieser seltenen Fälle ist der Bernstein von den Küsten der Ostsee. Im griechischen Altertum war er als ›Elektron‹ bekannt und als Schmuck geschätzt. Die physikalische Methode der Massenspektrographie bietet nunmehr die Möglichkeit, auch bei Gold und Edelsteinen nach ihrer genauen Herkunft zu forschen. Überraschungen wird es dabei sicherlich geben. Vielleicht sind unsere Drachen, die Glücksbringer-Drachen der Chinesen und jene, die man an langen Schnüren im Wind segeln lässt, gleichen Ursprungs. Die Zeit hat sie getrennt, verändert und als Fabelwesen nahezu unkenntlich gemacht.

Nachgedanken
    Eine für mich spannende Reise in eine Welt, die über die Tierkunde hinausgreift, liegt nun für Phönix, Einhorn, Drache und ein paar weitere Fabelwesen hinter uns. Angefangen hatte sie für mich, ohne dass ich das bemerkte, mit den Wolpertingern. Ich hatte sie, wie geschildert, als Unfug abgetan, ohne die Frage zu stellen, weshalb man darauf kam, solch bizarre Mischprodukte zu fertigen. Es waren auch, wie mich meine Erinnerung an den Besuch bei einem Tierpräparator an abgelegenem Ort im niederbayerischen Hügelland lehrte, keineswegs neumodische Marotten für Touristen, denen irgendein Zeug angedreht werden soll, die zum Wolpertinger führten, vielmehr steckte eine alte Tradition dahinter. Wie alt sie ist, bekam ich nicht heraus. Doch selbst wenn sie nur zwei oder drei Jahrhunderte zurückreichen sollte, genügt das, um Verbindungen mit alten Gebräuchen herzustellen. Meine Nachforschungen, die ich für dieses Buch anstellte, weisen auf einen Zusammenhang mit dem insbesondere in Tirol noch recht lebendigen Brauch des Perchtenlaufens hin. Als Perchten verkleiden sich zumeist junge Männer mit Tierfellen und Masken, die Hörner von Ziegen oder Schafen, schaurig anzusehende Grimassen und oft auch drohende Zähne tragen. Ähnliche Formen gibt es im Alemannischen in der Fasnacht. Zur Entstehung der Bezeichnung »Perchten« wird eine Verbindung mit den lateinischen Ausdrücken pertica für Stange und Stock (Träger), perturbatio Unordnung, Leidenschaft und Unanständigkeit und der davon abgeleiteten Verwirrung angenommen. Es ist unklar, erscheint aber durchaus möglich, dass sich der Ausdruck Wol-pertinger von den Per(ch)tingern ableitet, denen das gutturale tirolerische »ch« hinzugefügt worden ist. Der Vorsatz »Wol-« deutet eine (zustimmend und verniedlichend gemeinte) Veränderung an. Doch auch das gleichfalls lateinische vultuosus würde mit seiner Bedeutung ›grimassenhaft, verzerrt‹ als Ursprung für Wolpertinger passen. Ob nun die Herkunft des Ausdrucks Wolpertinger auf diese Weise geklärt ist oder nicht, so bleibt dennoch die – stark verkleinerte, puppenhafte – Veränderung der großen Perchten zum nur noch hasengroßen Mischwesen namens Wolpertinger als augenfällige Übereinstimmung bestehen. Was immer die zutreffende Erklärung für das Zustandekommen dieser so lächerlich aussehenden Produkte sein mag, ich hätte die Wolpertinger nicht einfach als Unsinn abtun sollen. Auch sie haben Ursprung und Geschichte. Davon bin ich inzwischen überzeugt.
    Die bei den Fabeltieren benutzte Vorgehensweise, für jedes dieser Wesen ein konkretes Vorbild zu suchen, erwies sich erfolgreicher als eine rein wortgeschichtliche Analyse. Damit ließ sich in für mich überzeugender Weise auch die besondere Bedeutung der jeweiligen Vorbilder für die Verhältnisse in den Zeiten, in denen sie als Fabelwesen ihren Ursprung hatten, darlegen. Die wortgeschichtliche (etymologische) Klärung des Namens des Einhorns könnte nicht begründen, dass die Arabische Oryx Urbild des Einhorns war und zudem das ideale Tier für Hirtennomaden gewesen wäre, deren Hauptprobleme darin bestanden, Wasser
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