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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Autoren: Josef H. Reichholf
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für ihre Herden zu finden und die Angriffe von Raubtieren abzuwehren. Vielleicht scheiterte die Domestikation der Oryx, weil sie zu unabhängig ist und sich nicht mit Wasser »erpressen lässt«; eine Erklärung, die mir Karl Reißmann in einer Zuschrift angeboten hat. Ziegen, Schafe und Rinder brauchen Wasser, Pferde auch. Der Ursprungsmythos des Einhorns fällt in die Zeit vor etwa 4000 Jahren, in der sich die Sahara und auch die Arabische Wüste rasch ausbreiteten. Das zunehmend niederschlagsärmere Klima traf die Hirtennomaden zunächst mehr als die Ackerbauern, die ihre Kulturen gewässernah anlegten. Am besten bekannt ist das von den sogenannten Flussoasen von Nil, Euphrat und Tigris, Indus und den großen Flüssen Chinas. Auch bei uns in Mittel- und Osteuropa entstanden die bedeutendsten Ansiedlungen von Menschen an den Flüssen. Das wasserärmere Hinterland reichte vielfach nur für eine dünne Besiedlung. So ist es im Rückblick auch plausibel, dass das Urbild des Phönix ein Vogel gewesen war, Benu von den Altägyptern genannt, der mit besonderen Niederschlägen an den unteren Nil kam und oft sehr lange Zeit weg war. Als Benu schließlich ausblieb, weil die Wüste zu breit geworden war, rückten die Flamingos an seine Stelle und nährten den Mythos von der Selbstauferstehung aus der Asche. Die geographische Ausbreitung des Phönix deckte sich in der Zeit vor der christlichen Vereinnahmung durch die Auferstehungsallegorie mit den flachen, durch besondere ergiebige Regenfälle als Brutstätten für Flamingos tauglich gewordenen Gewässer von Unterägypten bis tief nach Zentralasien hinein mit Ausläufern bis Ostasien. Auch diese Verknüpfung hat mit dem zunehmend rareren und entsprechend immer wichtigeren Gut (trinkbares) Wasser zu tun. Wir kennen inzwischen die globalen Niederschlagszyklen, ohne sie aber besser vorhersagen zu können als die Völker der Antike. Als weiteres Beispiel konnten auch die Prüfungen des Herakles auf das in seiner Zeit Wichtige bezogen werden: Vieh, Viehzucht und das Problem der Sterblichkeit der Menschen.
    Schließlich misslang der Versuch, auch dem Drachen ein natürliches Tier als Vorläufer zuzuordnen, weil sich die Suche zunächst, wie bisher üblich, auf ein Reptil konzentrierte. Doch selbst bei großzügigster Auslegung der Kriechtiereigenschaften halte ich es für unmöglich, die Drachen mit der Herkunft aus dieser Tiergruppe zu erklären. Im Gegensatz zu Einhorn und Phönix, deren tierische Eigenschaften umso deutlicher wurden, je mehr man sich ihren ursprünglichen Fassungen näherte, verliert sich das Reptilienhafte beim Drachen in der Rückschau. Die neueren Versionen sind »tierischer« als seine alten. Die Deutung, dass es Menschen gewesen waren, die Drachen bildeten, um sich und ihre Vorhaben zu tarnen, mag gewagt und gewöhnungsbedürftig erscheinen. Doch sie hat, meine ich, in doppelter Weise Stärken, nämlich einerseits über die enge Verbindung mit Gold und Edelsteinen und andererseits über die Verknüpfung mit der ostasiatischen Version des Drachen, der Stärke, Reichtum und Glück bringt. Im chinesischen Drachenthron drückt sich diese besondere Wertschätzung aus. So fällt denn meine neue Interpretation des Drachen eigentlich nur scheinbar aus dem Rahmen, denn mit den Bergleuten ließ sich das lebendige Vorbild nachvollziehbar ermitteln und mit der Umdeutung des Drachen im Spätmittelalter zum Symbol des Bösen zugleich auch dessen besondere Eignung für diese veränderte Rolle begründen. In jedem Fabelwesen steckt somit etwas, das sie unter der vorhandenen Vielzahl anderer Lebewesen auszeichnet und geradezu prädestiniert für die Mythologisierung.
    So ist abschließend ganz allgemein festzuhalten, dass die Fabelwesen, zumal die »bedeutenden« unter ihnen, keineswegs eine mehr oder weniger zufällige Auswahl aus möglichen Vorbildern darstellen. Sie waren von Anfang an etwas Besonderes, das Bedeutung hatte für die Menschen ihrer Zeit und ihrer Regionen. Dass ihre Wandlungen mehr als nur oberflächliche Anklänge an die biologische Evolution ausdrücken, mag als Indiz dafür gewertet werden, dass grundsätzlich ähnliche Vorgänge auch im kulturellen Bereich wirksam sind. Kultur und Kulturgeschichte lassen sich nicht so kategorisch von Natur und Naturgeschichte trennen, wie das aufgrund der herkömmlichen (universitären) »Fächertrennung« den Anschein erweckt. Insofern bilden die Fabelwesen auch eine fabelhafte Brücke.

Dank
    Zu den Fabelwesen
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