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Einfach losfahren

Einfach losfahren

Titel: Einfach losfahren
Autoren: Fabio Volo
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weil sie jetzt im Himmel war.
    Mit acht Jahren hatte ich noch eine kindliche Vorstellung vom Tod, damals sah ich darin nichts Endgültiges. Nach Opas Ansprache glaubte ich, meiner Mutter seien Flügel gewachsen und sie sei fortgeflogen, und manchmal war ich weniger traurig als wütend auf sie, weil sie mich ohne ein Wort verlassen und allein bei Oma und Opa zurückgelassen hatte. Hätte sie nicht beim Schultor, wo wir verabredet waren, vorbeikommen und sich von mir verabschieden können, bevor sie sich auf den Weg in den Himmel machte?
    Meine Mama fehlte mir, ich fragte oft, wann sie zurückkäme.
    Das Leben war schöner gewesen, als meine Mutter noch da war. Nach ihrem Tod waren meine Schwester und ich dauernd bei Oma und Opa, jeden Tag nach der Schule, und oft übernachteten wir auch dort. Manchmal weinte ich, weil ich lieber in meinem kleinen Zimmer zu Hause schlafen wollte, wo all meine Sachen waren.
    Oft war das Spielzeug, das ich gerade brauchte, dort.
    Nachdem ich meine Mutter verloren hatte, sah ich auch meinen Vater seltener.
    Ich mochte diese Veränderungen nicht.
    Morgens war es nun Oma, die die Kleider raussuchte und mich zur Schule brachte. Ich merkte schnell, dass sie es nicht so damit hatte, Kleider zu kaufen, die zueinander passten. Es kam sogar vor, dass ich deswegen in der Schule ausgelacht wurde. Früher wäre das nie passiert.
    Bei Oma musste ich immer Rollkragenpullover aus Acryl tragen. Ich hasse Rollkragenpullover.
    »Wenn der Hals bedeckt ist, erkältest du dich nicht.«
    Meine Schwester, die schon ein großes Mädchen war, hatte mehr Freiraum und ein Mitspracherecht, während ich in der Kleiderfrage den Mund zu halten hatte. Immer. Auch als Oma an Karneval beschloss, selbst das Kostüm anzufertigen, in dem ich auf Rossella Bianchettis Party ging.
    Durfte da der Rollkragenpullover fehlen? Nein!
    Zur Feier des Tages hatte sie sogar einen neuen gekauft. Weiß, natürlich aus Acryl, dazu eine Wollstrumpfhose in der gleichen Farbe. Dann schnitt sie ein großes Loch in einen roten Karton, durch das man mein Gesicht sah, und setzte ihn mir auf den Kopf. Sie fand es umwerfend. Ich ging als… Lolli.
    »Als Lolli? Was soll das denn für ein Karnevalskostüm sein, Oma?«
    »Wieso? Das ist doch sehr originell, so ein Kostüm hat bestimmt niemand sonst auf dem Fest.«
    Zweifellos.
    Am peinlichsten war, wenn ich auf die Frage antworten sollte: »Als was gehst du eigentlich?«
    Die Einzige, die mir diese Frage nicht stellte, war ausgerechnet Rossella Bianchetti, die als Schneewittchen verkleidet war und übrigens seit ein paar Monaten mit mir ging, auch wenn sie noch nichts von ihrem Glück wusste.
    Erst sagte sie nichts, sie schaute mich nur einen Augenblick lang an. Dann fragte sie: »Wieso gehst du denn als Streichholz?«
    Da habe ich mit ihr Schluss gemacht.
    Wenn ich daran denke, juckt die weiße Strumpfhose noch heute an den Beinen.
    Im Jahr zuvor hatte meine Mutter mich als Cowboy verkleidet, und ich sah so gut aus, dass sich Aschenputtel und Pippi Langstrumpf auf dem Fest fast in die Haare bekommen hätten, weil beide mich küssen wollten.
    Ich mochte all diese Veränderungen nicht, ich wollte mein Leben von früher zurück, als meine Mama noch da gewesen war.
    Deshalb war »Veränderung« für mich ein hässliches Wort. Es bedeutete, dass es einem mies ging. Und es war ein hartes Stück Arbeit, mich von dieser Angst zu befreien, die mich viele Jahre lang gelähmt hat.
    Ich suchte nicht nach Veränderungen, sondern nach Beständigkeit.
    Meine Entscheidungen waren vollkommen von dieser Angst geprägt, und wer von der Angst getrieben ist, trifft nie Entscheidungen, die Ausdruck seiner Gefühle sind. Sie sollen einzig und allein die Angst in Schach halten und beruhigen. Ich wollte stets alles unter Kontrolle haben. Ich wollte steuerbare Situationen, auf der Arbeit, in Freundschaften, in Beziehungen.
    Ich hätte nie meine Arbeit aufgegeben, alles riskiert und in Frage gestellt wie Federico. Undenkbar. Wegen dieser Angst führte ich ein Leben, das nicht mein eigenes war. Ich lebte nicht meine Bestimmung. Möglich, dass nur ganz wenige Menschen wirklich ihrer Bestimmung gemäß leben, aber ich gehörte mit Sicherheit nicht zu ihnen. Ich lebte ein Leben, das mir praktisch zugestoßen war. Ich hatte mich darin eingenäht wie in ein Kleid und war mit der Zeit zu der Überzeugung gelangt, es wäre meins. Obwohl mir ab und zu bewusst wurde, dass es an einigen Stellen ein bisschen zwickte. Aber man gewöhnt
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