Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einfach Freunde

Einfach Freunde

Titel: Einfach Freunde
Autoren: Abdel Sellou
Vom Netzwerk:
Paris so schnell wie ein galoppierendes Pferd, grau schillernd wie ein Gewitterhimmel, bereit, die ganze Stadt zu verschlingen. Als Kind wusste ich nicht, dass selbst ein hervorragender Schwimmer kaum dagegen ankommt. Ich wusste auch nicht, dass rund zehn Jahre vor meiner Geburt rechtschaffene Franzosen Dutzende von Algeriern ins Wasser geworfen hatten. Obwohl diese Franzosen ganz genau wussten, wie gefährlich die Seine ist.
    Ich habe den Vorsprung betrachtet, auf dem ich so wagemutig vor den Bullen in Deckung gegangen war, nachträglich überlief mich ein Schaudern. Ich dachte, dass ich mich heute niemals trauen würde, über die Brüstung zu klettern. Doch vor allem dachte ich, dass ich heute keinen Grund mehr habe, mich zu verstecken oder wegzurennen.

I

SCHRANKENLOSE FREIHEIT

1
    An Algier, meine Geburtsstadt, habe ich keine Erinnerung. Ihre Düfte, Farben, Geräusche habe ich alle vergessen. Ich weiß nur, dass ich mich nicht fremd gefühlt habe, als ich 1975 mit vier Jahren nach Paris gekommen bin. Meine Eltern haben mir erklärt:
    Â»Das ist dein Onkel Belkacem. Das ist deine Tante Amina. Von jetzt an bist du ihr Sohn. Du bleibst bei ihnen.«
    In der Küche ihrer winzigen Zweizimmerwohnung roch es wie zu Hause nach Couscous und Gewürzen. Es war nur etwas weniger Platz, was auch daran lag, dass ich im Doppelpack mit meinem ein Jahr älteren Bruder angeliefert worden war. Unsere ältere Schwester war in der Heimat geblieben. Ein Mädchen macht sich viel zu nützlich, das gibt man nicht her. Sie sollte meiner Mutter helfen, meine beiden jüngeren Geschwister zu versorgen. So behielten die Sellous von Algier immerhin noch drei Kinder, das war genug.
    Ein neues Leben und lauter Neuigkeiten. Erstens: Mama ist nicht mehr Mama. Ich darf sie nicht mehr so nennen. Ich darf nicht einmal mehr an sie denken. Mama, das ist jetzt Amina. Die überglücklich ist, auf einen Schlag zwei Söhne zu haben, nachdem sie sich so lange vergeblich Nachwuchs gewünscht hat. Sie streicht uns übers Haar, sie nimmt uns auf den Schoß, küsst unsere Fingerspitzen, schwört, dass es uns nicht an Liebe fehlen wird. Bloß, dass wir keinen blassen Schimmer haben, was Liebe ist. Man hat uns immer gefüttert, gewaschen und in Fiebernächten bestimmt auch im Arm gehalten, aber das war doch keine große Sache, sondern das Natürlichste der Welt. Ich beschließe, dass es hier genauso sein soll.
    Zweitens: Algier ist weg. Jetzt leben wir in Paris, am Boulevard Saint-Michel, im Herzen der französischen Hauptstadt, und auch hier können wir draußen spielen. Auf der Straße scheint’s ein bisschen kühler zu sein. Wonach riecht das hier? Knallt die Sonne hier so erbarmungslos auf den Asphalt wie in meiner Heimatstadt? Hupen die Autos genauso laut? Mal schauen, meinen Bruder im Schlepptau. Auf der lächerlich kleinen Grünfläche vorm Hôtel de Cluny fällt mir nur eins auf: Die anderen Kinder sprechen nicht so wie wir. Mein dummes Brüderchen klebt an mir, als hätte er vor ihnen Angst. Der Onkel, der neue Vater, redet uns in unserer Muttersprache gut zu. Französisch, sagt er, werden wir in der Grundschule schnell lernen. Unsere Schulranzen stehen bereit.
    Â»Morgen müsst ihr früh raus, Kinder. Ist aber noch lange kein Grund, mit den Hühnern schlafen zu gehen. Bei uns gehen sie nicht schlafen!«
    Â»Bei uns, Onkel? Aber wo bei uns? In Algerien? In Algerien gehen die Hühner nicht schlafen, stimmt’s?«
    Â»Jedenfalls später als die Hühner in Frankreich.«
    Â»Und was ist mit uns, Onkel? Wo ist bei uns?«
    Â»Ihr seid algerische Küken auf einem französischen Bauernhof!«
    Drittens: Ab sofort wachsen wir in einem Land auf, dessen Sprache wir noch lernen müssen, aber wir werden bleiben, was wir schon immer waren. Ziemlich kompliziert für so kleine Jungs, und ich verweigere jetzt schon jede geistige Anstrengung. Mein Bruder versteckt den Kopf in den Händen, schmiegt sich noch enger an meinen Rücken. Der geht mir vielleicht auf die Nerven … Was mich betrifft – ich weiß zwar nicht, was mich in einer französischen Schule erwartet, geh das aber mit der Devise an, nach der ich auch die kommenden Jahre leben werde: Was kommt, das kommt.
    Damals ahnte ich nichts von dem Chaos, das ich im Hühnerhof anrichten würde. Ich führte nichts Böses im Schilde. Ich war das unschuldigste Kind
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher