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Einfach Freunde

Einfach Freunde

Titel: Einfach Freunde
Autoren: Abdel Sellou
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Geschichte auf. Sie glauben uns kein Wort, aber aus Mangel an Beweisen schickt der Wachmann die beiden Bullen wieder weg und führt uns zum Notausgang.
    Â»Damit ihr Bescheid wisst, Jungs, diese Schleuse ist Teil eines Alarmsystems. Wenn man hier durchgeht, blinkt in der Überwachungskabine ein rotes Lämpchen auf.«
    Ich gebe mich mächtig beeindruckt angesichts dieser unerhörten technischen Neuerung.
    Â»Ist ja ’n Ding. Bestimmt sehr praktisch, so’n Gerät.«
    Â»Und wie.«
    Die Stahltür knallt hinter uns zu. Wir begeben uns schnurstracks zu den anderen Assis auf den Betonplatz, wo wir uns schlapp lachen.
    Als ich meinen – verhältnismäßig – größten Coup landete, war ich noch keine zehn Jahre alt. Ich hatte mir im Train Bleu, dem Spielzeugladen in unserem Einkaufszentrum, ein Kettcar geschnappt. Ein richtiges Auto mit Elektroantrieb, man konnte sich reinsetzen! Ich habe noch vor Augen, wie ich dieses Ungetüm auf dem Kopf balancierte, während ich die Treppe hinunterflitzte, den Geschäftsführer dicht auf den Fersen.
    Â»Bleib stehen, du Bengel, bleib auf der Stelle stehen!«
    Das Ding kostete ein Vermögen.
    Später, auf dem Betonplatz, hab ich es mit mehreren Kumpels ausprobiert. Es fuhr sich nicht besonders gut. Es war eindeutig zu teuer.

6
    Die Weichen waren gestellt. Ich konnte mich nicht mehr ändern. Schon mit zwölf Jahren war klar, dass ich nicht der anständige Mitbürger werden würde, den die Gesellschaft gern gehabt hätte. Die anderen Jungs aus der Cité waren alle auf der gleichen Schiene unterwegs und würden nicht mehr von ihrem Weg abkehren. Man hätte uns die Freiheit und unseren gesamten Besitz nehmen müssen, uns voneinander trennen … Und selbst das hätte wohl nicht gereicht. Da wäre schon eine komplette Neuformatierung nötig gewesen, wie bei einer Computerfestplatte. Aber wir sind keine Maschinen, und niemand wagte es, uns mit unseren eigenen Waffen zu schlagen, der nackten Gewalt nämlich, die keine Grenzen und Gesetze kennt.
    Wir haben sehr früh begriffen, wie der Hase läuft. Ob Paris, Villiers-le-Bel oder am Arsch der hinterletzten Provinz: Überall, wo wir lebten, standen wir, die Wilden, dem zivilisierten französischen Volk gegenüber. Wir mussten nicht mal um unsere Privilegien kämpfen, weil wir vor dem Gesetz als Kinder galten, egal, was wir anstellten. Hier wird ein Kind nie zu Verantwortung gezogen. Man findet für sein Verhalten lauter Entschuldigungen. Zu sehr oder nicht genug behütet, zu verwöhnt, zu arm … In meinem Fall sprachen sie von dem »Trauma der Vernachlässigung«.
    Kaum dass ich in die sechste Klasse der Guillaume-Apollinaire-Schule im XV . Arrondissement komme, werde ich das erste Mal zum Psychologen geschickt. Zum Schulpsychologen, klar. Aufgeschreckt von meiner Akte, die bereits etliche Verweise und andere wenig schmeichelhafte Beurteilungen von meinen Lehrern enthält, hat er den Wunsch geäußert, mich kennenzulernen.
    Â»Du lebst also nicht bei deinen echten Eltern, Abdel, richtig?«
    Â»Ich lebe bei meinem Onkel und meiner Tante. Aber jetzt sind sie meine Eltern.«
    Â»Das sind sie, seit deine wahren Eltern dich im Stich gelassen haben, richtig?«
    Â»Sie haben mich nicht im Stich gelassen.«
    Â»Abdel, wenn Eltern sich nicht mehr um ihr Kind kümmern, dann lassen sie es doch im Stich, richtig?«
    Sein »richtig« kann mir gestohlen bleiben.
    Â»Nein, sie haben mich nicht im Stich gelassen. Sie haben mich bloß anderen Eltern übergeben.«
    Â»Du wurdest von ihnen verlassen. So nennt man das.«
    Â»Nicht bei uns. Bei uns macht man das so.«
    Konfrontiert mit so viel Verstocktheit, seufzt der Psychologe. Ich lenke ein bisschen ein, damit er mich in Ruhe lässt.
    Â»Herr Psychologe, um mich brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Mir geht’s gut, ich bin nicht traumatisiert.«
    Â»Doch, Abdel, natürlich bist du traumatisiert!«
    Â»Wenn Sie das sagen …«
    Tatsächlich waren wir Kinder der Vorstadt uns nicht im Geringsten unserer Lage bewusst. Niemand hatte wirklich versucht, uns von der schiefen Bahn abzubringen. Die Eltern sagten nichts, weil ihnen die Worte fehlten und sie uns sowieso nicht zügeln konnten, selbst wenn sie unsere Einstellung nicht billigten. Die meisten Maghrebiner und Afrikaner lassen Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen, so
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