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Einem Tag in Paris

Einem Tag in Paris

Titel: Einem Tag in Paris
Autoren: E Sussman
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verlieben, ruft sie sich in Erinnerung. Er liebt es nicht, zu lieben.
    Dieser Tag begann damit, dass Philippe eine andere Frau küsste. Und womit wird er enden?
    Sie hofft, dass Nico als Erster kommen wird. Sie denkt an ihre eine Nacht im Bett, ein betrunkener Ausflug, der sich in dem Augenblick, als er sie berührte, in etwas anderes verwandelte. Sie schließt die Augen und erinnert sich: Sie hatten aufgehört, sich zu lieben, und sie hatte sich auf dem schmalen Bett zu ihm umgewandt. Er war ihr mit den Fingern durchs Haar gefahren.
    »Danke«, flüsterte er. »Für diese eine Nacht.«
    Einen Augenblick lang dachte sie: Wie wäre es, von diesem Mann geliebt zu werden?
    Als sie die Augen wieder aufschlägt, sieht sie das magere weiße Mädchen Blues singen.
    Sie will heute Abend etwas. Sie weiß nicht, was – vielleicht nur eine Sehnsucht danach, dass der Tag nicht endet.
    Sie sieht auf, als jemand an ihrem Tisch vorbeigeht – nicht Nico, nicht Philippe. Es ist ein kleines Mädchen, das verloren aussieht, die Tische nach Maman oder Papa absucht. Das Mädchen dreht sich um und stürmt die Straße hinunter. Chantal denkt an Lindy, die wieder bei Dana und Jeremy ist, nicht mehr verloren, wenigstens für eine kleine Weile.
    Sie beobachtet ein Paar am Nebentisch. Die Frau erzählt eine lange Geschichte, fuchtelt dabei wild mit den Händen durch die Luft, und der Mann, gut aussehend und gelangweilt, sieht in ihre Richtung. Mit plötzlicher Klarheit begreift sie, dass Philippe heute Abend nicht auftauchen wird. Vielleicht hat er seine vollbusige Amerikanerin endlich ins Bett gelockt. Oder er wird die neue Sängerin in der Band zum Buttes-Chaumont führen und ihr ein Gedicht aufsagen.
    Sie weiß, was er seinen Freunden oder Geliebten nicht erzählen wird: Er hat vor einem Jahr seinen Bruder bei einem Autounfall verloren. Der Bruder war der gute Sohn gewesen, der Medizinstudent, der, der sich in dem grand appartement seiner Eltern im Sechzehnten Arrondissement jeden Sonntag zum Mittagessen blicken ließ. Philippe hat die Schule abgebrochen und sein ganzes Geld für Drogen und Musikzubehör ausgegeben. Als er sich Hilfe suchend an seine Familie wandte, enterbten sie ihn.
    Er hat Chantal das alles erzählt, als er einmal spätabends von seinen Eltern nach Hause kam. Er war traurig, still, und er liebte sie auf eine völlig andere Art – als müsste er sich in sie pressen und lange Zeit dortbleiben. Als sie fertig waren, hielt er sie fest an sich gedrückt und erzählte ihr die Geschichte. Er fragte sie, ob sie ihn am nächsten Sonntag zur Wohnung seiner Eltern begleiten würde. Es sei zu schwer, allein hinzugehen.
    »Natürlich«, hatte sie gesagt.
    »Bei ihnen weiß ich nicht mehr, wer ich bin«, sagte er. »Seit Thierry gestorben ist. Sie brauchen einen guten Sohn.«
    Sie fragte sich, ob sie sein Versuch war, diese Rolle auszufüllen.
    Aber in der Woche darauf spielte er bei einem Gig in Saint-Germain-en-Laye und kam nicht wieder. Er schrieb ihr eine SMS : Kein Mittagessen. Zu groggy.
    Und so war sie sein gutes Mädchen, und er war ihr böser Junge. Keiner von ihnen würde sich ändern. Er würde seine Leadsängerin vögeln, und sie würde weiter auf so etwas wie Liebe hoffen.
    Sie würde weiter auf jemanden wie Jeremy hoffen.
    »Darf ich mich zu dir setzen?«, erschreckt eine Stimme, auf Französisch, Chantal.
    Sie sieht auf – es ist Nico, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht.
    »Natürlich«, sagt sie. Allein schon sein Anblick lässt ihr Herz höher schlagen.
    Er setzt sich ihr gegenüber; das Lächeln ist nicht aus seinem Gesicht gewichen.
    »Du hast dich in deine amerikanische Französischschülerin verliebt«, sagt sie. Sie wundert sich, dass sie Enttäuschung verspürt, echte, harte Enttäuschung, die wie ein Stein auf ihre Rippen drückt.
    »Nein. Ja«, sagt er. Er sieht weg und legt dann einen Umschlag zwischen ihnen auf den Tisch. »Das ist für dich.«
    Er sieht schüchtern und jungenhaft aus, und sie fragt sich, ob sie sich alles über die wundervolle Frau anhören müssen wird, die sein Herz gestohlen hat.
    »Mach ihn auf«, drängt er sie.
    Sie greift nach dem Umschlag.
    Er greift nach ihrem Glas Wein, und ihre Hände streifen einander. Sie spürt seine Wärme – das ist es, was die Liebe mit einem Mann macht, denkt sie. Sie sieht zu, wie er einen Schluck von ihrem Wein nimmt. Es ist eine verblüffend intime Geste. Er hat sie nicht einmal gefragt, ob sie etwas dagegen hat. Sie folgt dem Glas an
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