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Einem Tag in Paris

Einem Tag in Paris

Titel: Einem Tag in Paris
Autoren: E Sussman
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Zuerst ihren Mund, den der Anflug eines Lächelns umspielt. Ihre Lippen sind voll, und er sieht, dass sie Lippenstift getragen hat. Trägt sie immer Lippenstift?
    »Philippe ist spät dran«, sagt er auf Französisch. »Er wird gleich hier sein.«
    »Natürlich«, sagt sie.
    »Hast du wieder deinen Amerikaner?«, fragt er.
    »Letzter Tag«, sagt sie zu Nico. »Ich bin ein bisschen traurig deswegen.«
    »Hat er dir den Kopf verdreht?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Er hat es gar nicht versucht.«
    »Und wenn er es versucht hätte?«
    »Er ist ein glücklich verheirateter Mann«, sagt sie. »Davon gibt es nicht allzu viele. Es tut gut, ab und zu einen zu treffen.«
    Nico stellt sich Chantal neben sich in einem Cabrio vor, wie eine junge Catherine Deneuve, ein Kopftuch ums Haar gebunden, während das Meer sich hinter der Küste ausdehnt und die Straße sich durch grüne Hügel windet, die Luft erfüllt vom Duft von Lavendel.
    Der Kellner kommt. Er ist jung und gelangweilt und riecht nach dem Alkohol des vorherigen Abends. Nico will dem Jungen am liebsten sagen, dass er nach Hause gehen und sich duschen soll. Als er sich in dem Café umsieht, wird ihm bewusst, dass die meisten Gäste jünger sind als er. Er ist zweiunddreißig Jahre alt – wann ist er eigentlich ein alter Kerl geworden? Nico bestellt einen café crème und einen Espresso für Philippe. Als der Kellner geht, fächelt Nico die schale Luft weg.
    »Und du?«, fragt Chantal. »Wen hast du heute?«
    »Eine Frau. Ich weiß nicht, ob sie jung oder alt ist. Auch Amerikanerin. Hohes Französischniveau.«
    »Du Glückspilz.«
    »Offenbar ist sie Französischlehrerin an einer Highschool. Wieso braucht eine Französischlehrerin denn einen Privatlehrer für einen Tag?«
    »Das wirst du noch früh genug herausfinden.«
    Chantal schiebt sich das Haar hinter die Ohren. Auch sie sieht älter aus als die Mädchen, die auf ihren Stühlen im Café hin und her zappeln, von ihren Handys SMS -Nachrichten verschicken, mit ihren Freundinnen kichern. Nico hört die schrille Stimme eines Mädchens – »Mais non, c’est pas possible!« –, und das Mädchen schlägt einem Jungen leicht ins Gesicht. Der Junge beugt sich vor und fährt mit einem Daumen über die Lippen des Mädchens. Nico wendet den Blick ab. Er sieht Chantal an, die ihren Espresso schlürft. Sie ist achtundzwanzig. Sie ist eine Frau, verglichen mit diesen Mädchen. Wieder will er sie berühren. Er betrachtet ihre Finger, die auf dem Tisch ruhen. Sie trägt einen schlichten Silberring, etwas, das mit einem Ehering verwechselt werden könnte.
    Er nimmt ihre Hand und zieht sie zu sich. Auf dem Ring ist etwas eingraviert. Schließlich sieht er, dass es eine Weinrebe ist, die ihren Finger umrankt.
    »Der gefällt mir«, sagt er zu ihr.
    »Er ist ein gebrochenes Versprechen«, sagt sie.
    Er wartet darauf, dass sie es erklärt, während er die Wärme ihrer Hand in seiner spürt.
    »Philippe hat ihn mir geschenkt«, sagt sie zu ihm, und ihre Hand löst sich von seiner.
    Nico sieht über die Straße. Noch immer keine Spur von Philippe.
    »Ich habe Neuigkeiten«, sagt er. Er will es ihr erzählen, bevor Philippe kommt. Er beugt sich vor, bereit, sein Geheimnis zu teilen. Er hat es noch niemandem erzählt. »Ich habe gestern meine Gedichtsammlung verkauft!«
    »Bravo!«, sagt Chantal, die Augen weit aufgerissen. »Und ich wusste nicht einmal, dass du ein Dichter bist!«
    »Ich erzähle es nicht vielen Leuten.« Ehrlich gesagt hat er seine künstlerischen Ambitionen nur seinen Eltern gebeichtet, die daraufhin meinten, er solle sie aufgeben und sich lieber um einen richtigen Beruf kümmern. Daher hat er ihnen gestern Abend nichts von seiner Neuigkeit mitgeteilt. Außerdem ist er sich nicht sicher, wie sie auf die Gedichte reagieren werden, wenn sie sie irgendwann lesen.
    »Worüber schreibst du?«, fragt Chantal. Ihre Miene hellt sich auf – das ist die Chantal, in die er sich vor ein paar Wochen verknallt hat, die Frau, die ihm zuhörte, als er ihr eine lange Geschichte von seiner ersten Freundin in der Normandie erzählte, und die ihn auf eine solch freundliche Weise fragte: »Wirst du sie immer am meisten lieben?« »Nein«, hatte er zu ihr gesagt, »ich hoffe nicht.« Er sagte nicht: Vielleicht werde ich dich am meisten lieben.
    »Es ist eine Reihe von Gedichten, bei denen es immer um dieselbe Geschichte geht. Ein Junge wird aus seinem Elternhaus entführt. Er bleibt vierundzwanzig Stunden verschwunden. Jedes Gedicht
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