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Einem Tag in Paris

Einem Tag in Paris

Titel: Einem Tag in Paris
Autoren: E Sussman
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ist eine andere Version dessen, was ihm in diesen vierundzwanzig Stunden widerfährt.«
    »Wer wurde entführt?«, fragt Philippe und lässt sich auf einen Stuhl an ihrem kleinen runden Tisch fallen. Er stellt seine Kuriertasche neben sich auf dem Boden ab.
    Nico spürt, wie sich seine Brust zuschnürt – er hat die Chance verpasst, Chantal mehr zu erzählen.
    »Wurdest du einmal entführt?«, fragt Chantal.
    »Es ist nur etwas, das ich geschrieben habe«, sagt Nico. Ein andermal wird er Chantal die Gedichte zeigen. Er wird ihr die Geschichte von seinem Tag im Rübenkeller erzählen. Für einen kurzen Moment spürt er das Entsetzen, mit dem er schon so lange lebt. Er ist ein Kind, das auf einem Berg hölzerner Weinkisten steht. Die Luft riecht nach Erde und Kartoffeln und Wein. Er späht durch eine Ritze oben in der Falltür und kann die Beine von Polizisten sehen, Dutzenden von Polizisten, die mit ihren schwarzen Stiefeln durch nassen Schlamm stapfen. Selbst jetzt, Jahre später, ist er sich nicht sicher, ob er mehr Angst davor hatte, dass sie ihn finden könnten, oder davor, dass sie ihn niemals finden wird.
    Er hat niemandem von diesem Tag erzählt. Jetzt hat er dreißig Gedichte geschrieben, die diese eine, einzige Erfahrung seiner Kindheit immer wieder neu erfinden. Gestern Abend sagte die Lektorin am Telefon zu ihm: »Dieses Buch wird ein Geschenk für uns alle sein. Wir anderen haben unsere Kindheitserfahrungen. Aber Sie haben Ihre Kindheitserfahrung und Ihre ausschweifende Fantasie. Jeder Tag kann unzählige Male neu erschaffen werden. Letztendlich wissen wir nicht, was wahr ist. Und doch ist alles wahr, oder? Es ist ein Leben voller Möglichkeiten an einem einzigen Tag.«
    Nico wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Jetzt fragt er sich: Wird dieses Buch ihn befreien? Die Erfahrung selbst spielt nach all den Jahren kaum noch eine Rolle. Aber das Geheimnis ist riesig geworden, faulig und verwesend. Jetzt hat er dieses ganze Durcheinander zusammengefegt und Gedichte geschaffen. Kann sie die Gedichte wirklich »entzückend« genannt haben? »Atemberaubend«? Nico will Chantal das alles erzählen.
    »Ist es so eine Art Krimi? Ein Thriller?«, fragt Philippe.
    »Wen hast du heute bekommen?«, fragt Nico Philippe. Philippe zündet sich eine Zigarette an.
    »Bof«, sagt Philippe. »Niemanden. Ich habe meinen festen Termin um elf. Sonst niemanden. Clavère versucht, mich zu verarschen. Er will mich weghaben, aber er wird mich nicht feuern. Deshalb erzählt er mir ständig, er hätte keine Schüler für mich. Ich habe die Schnauze so voll von dieser Schule.« Philippe stößt eine Rauchwolke aus. Seine Wangenknochen werden hohl, und seine Miene verändert sich – einen Moment lang sieht er gequält aus. Dann lächelt er, und er sieht wieder gut und selbstbeherrscht aus. Nico stellt sich vor, dass er aus reichem Hause kommt, trotz seines billigen T-Shirts und der zerrissenen Jeans.
    »Wirst du dir einen anderen Job suchen?«, fragt Nico.
    »Ich werde mich auf meine Musik konzentrieren. Ich habe Besseres zu tun, als für irgendein amerikanisches Mädchen den Babysitter zu spielen, das nicht mal das Verb être konjugieren kann.«
    »Die mit den Titten«, erklärt Chantal Nico.
    »Ah-ha«, sagt Nico. Philippe hat ihnen erzählt, dass er seinen zweistündigen Unterricht mit dieser Frau nur wegen ihrer Brüste aushalten kann.
    Nico sieht Philippe und Chantal über den kleinen Tisch hinweg an und bemerkt noch etwas anderes: Chantal hat ihren Stuhl ein Stück von Philippe abgerückt. Sie will Philippe nicht ansehen. Hat sie den Kuss gesehen?, fragt er sich.
    Philippe und Chantal sind ein Liebespaar, das weiß Nico. Und doch kann er es nicht ganz glauben, jetzt, nachdem er etwas Zeit mit ihnen verbracht hat. Sie sind wie Tag und Nacht. Was kann es sein, das Chantal zu den dunklen Seiten von Philippes Leben hinzieht? Aber dann fällt ihm wieder ein, wie er die beiden das erste Mal zusammen bei einer Versammlung in der Schule gesehen hat. Sie standen ganz hinten im Klassenzimmer an der Wand. Philippe hatte die Arme um Chantal geschlungen, und sie hatte sich nach hinten gegen ihn gelehnt. Sie sahen beide so verträumt und träge aus, als hätten sie den ganzen Tag zusammen im Bett verbracht und erst in letzter Minute rasch etwas übergezogen, um pünktlich zu dem Meeting zu kommen. Während ihr Chef von den Herausforderungen schwafelte, Japaner zu unterrichten, flüsterte Philippe Chantal irgendetwas ins Ohr, und
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