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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt
Autoren: Andreas Eschbach
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anfingen, vor einem halben Jahr etwa. Den Anfang machten die batteriebetriebenen Entsorger für die Hosentasche – diese kleinen Metalletuis für Zigarettenasche und was eben unterwegs so anfällt. Sie gäben zu früh den Geist auf. Und zwar alle. Das war uns rätselhaft.
    Vor einem Monat stellte sich heraus, dass die Felder in den Kfz-Abgasentsorgern erloschen waren und die Abgase ungefiltert entweichen ließen.
    Reihenweise.
    Das war uns äußerst rätselhaft.
    Und dann kam Konrad mit der sensationellen Neuigkeit, sie hätten herausgefunden, wie das Feld funktioniert.
     
    »Ich dachte immer, das ganze Zeug verschwindet in einem Quantenraum«, erklärte er mir mit einer ausholenden Bewegung, die alles einzuschließen schien, mein Büro und die atemberaubende Aussicht über die Stadt inbegriffen. »Du weißt schon, eines dieser hypothetischen Kontinua mit imaginärer Dimensionszahl. Aber wir wissen jetzt, dass das nicht stimmt.«
    »Sondern?«, fragte ich, weil mir seine Kunstpause zu lange dauerte und ich das deutliche Gefühl hatte, dass mir nicht gefallen würde, was er zu sagen hatte.
    »Alles, was man in das Feld wirft«, sagte Konrad, »verschwindet in der Zeit .«
    »In der Zeit?«, echote ich. »Bist du sicher?« Was man eben so fragt in solchen Momenten.
    »Du darfst gern die Protokolle unserer Experimente studieren, falls dich so etwas noch interessieren kann.« Konrad lehnte sich im Sessel zurück und faltete die Hände vor seinem Kinn. »Wir haben hochwertige Atomuhren hineingeschickt, funkkontrolliert und mit Ultrahochgeschwindigkeitsaufzeichnung. Hat Millionen gekostet. Aber wir sind uns jetzt sicher, dass das Feld alles, was hineingerät, in die Zukunft schleudert.«
    »In die Zukunft?« Ich versuchte zu verstehen, was das für uns bedeuten konnte. »Das klingt nicht gut.«
    Konrad schüttelte den Kopf. »Ist es auch nicht.«
    »Kann man etwas darüber sagen, in welche Zukunft?«, hakte ich nach. »Ich meine, Zukunft – das heißt ja womöglich, irgendwann kommt alles wieder, oder?«
    Er fuhr sich durch das schütter gewordene Haar. »Genau wissen wir es nicht, aber ich glaube, der Stromverbrauch des Feldes ist der Schlüssel. Er wächst, seit wir das Feld gefunden haben. Ich protokolliere das seit Jahrzehnten, und inzwischen steht fest, dass das Anwachsen des Stromverbrauchs einer hyperbolischen Kurve folgt.« Er nahm die Brille ab und begann, seine Nasenwurzel zu massieren. »Du erinnerst dich, was eine hyperbolische Kurve ist? Eine Hyperbel?«
    Ich schnaubte. »Eine Kurve der Form eins durch x, natürlich. Hältst du mich für verblödet?«
    »Und was ist das Merkmal einer Hyperbel?«
    »Du wirst es mir gleich sagen.«
    »Eins durch x. Oder irgendein Wert geteilt durch x. Was passiert, wenn x Null wird?«
    Ich begriff. »Die Kurve geht gegen Unendlich!«
    Konrad setzte seine Brille wieder auf. »Man nennt das eine Singularität «, erklärte er.
     
    Und diese Singularität wird heute Nacht stattfinden, nach mitteleuropäischer Zeit um genau ein Uhr, zwölf Minuten, achtunddreißig Komma irgendwas Sekunden. Keine Ahnung, was an diesem Zeitpunkt so besonders ist. Ich schätze, nichts. Es ist eben einfach der Punkt auf dem Zeitstrahl, der mit unserem Feld von Anfang an verbunden war.
    Inzwischen sind die meisten Felder erloschen, denn heute Abend betrug der Strombedarf fast ein halbes Megawatt je Quadratzentimeter. Bis Mitternacht wird kein einziges Feld mehr verfügbar sein. Man kann ausrechnen, wann der Bedarf je Quadratzentimeter größer werden wird als die gesamte im Universum verfügbare Energie – ein paar Millionstel Sekunden vor dem Moment der Singularität wird es so weit sein.
    Und dann? Nun ja, wer kann das wissen? Die beste Schätzung dürfte die von Konrad sein: Im Augenblick der Singularität wird alles wiederkommen. Alles, was wir je hineingesteckt haben in das Feld und seine Abkömmlinge. Alle Kaffeefilter, Bananenschalen, Gemüsereste, alle vollgeschissenen Windeln der letzten dreißig Jahre. Aller Kehricht und alle Staubsaugerbeutel, alle zerbrochenen Spiegel, Durchschreibesätze und Medikamentenreste. Die Zigarettenkippen von drei Jahrzehnten. Die Inhalte aller Katzenklos. Berge von Eierschalen, ranzigem Frittierfett, vollgerotzten Taschentüchern, Binden, Tampons und Kondomen. Alles wird wieder auftauchen, aus dem Nichts, überall auf der Welt. Gebirge von Bauschutt, Fliesenscherben und ölverseuchtem Aushub werden uns unter sich begraben, zusammen mit Baggerreifen,
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