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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt
Autoren: Andreas Eschbach
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Zeit? Was für eine Anmaßung von uns, etwas über sie aussagen zu wollen. Zeit: das Baumaterial unseres Lebens. Unser Leben ist aus Zeit gemacht, ist Zeit. Und wenn es zu Ende geht … und es geht zu Ende, ohne jeden Zweifel … dann schauen wir auf die Zeit zurück, die wir durchmessen haben, die wir gestaltet haben – oder die uns gestaltet hat –, betrachten die Entscheidungen, die wir getroffen haben, und erkennen, welche Auswirkungen sie gehabt haben. Wie sie uns von einem Punkt unseres Lebens zu einem anderen gebracht haben, zu dem, an dem wir jetzt stehen.
    Ich war zum Beispiel nicht immer so reich. Es war auch nicht damit zu rechnen. Wenn man Physik studiert, wie ich es gemacht habe, und mit Mühe seinen Doktor zu Stande bringt, dann ist Reichtum das Letzte, was man erwarten sollte.
    Dennoch sitze ich hier, in diesem riesigen Haus, das auf einem Anwesen steht, das mir gehört, so weit mein Auge reicht, und das heute Abend so still ist wie selten zuvor, weil ich dem Personal freigegeben und die Telefonanlage abgestellt habe. Dass ich den Abend damit verbringen kann, von den besten Weinen der Welt so viel zu trinken, wie ich will, geht letztlich auf eine Entscheidung zurück, die ich vor dreißig Jahren getroffen habe. Diese Entscheidung hat auch bewirkt, dass es Unsinn wäre, die Flaschen noch länger aufzubewahren.
    Ich schätze, ich schreibe diesen Bericht nur, weil ich es nicht ertrage, überhaupt nichts zu tun. Nach dem Studium war ich einige Zeit arbeitslos, wie üblich, und fand schließlich eine schlechtbezahlte Stelle an einem Kernforschungszentrum, für die ich überqualifiziert war. Im Grunde war ich Wartungstechniker für den Teilchenbeschleuniger. Dreizehn Kilometer muffiger Tunnel, hundertachtzigtausend Beschleunigerspulen, unendlich viele Kabel, und alles musste funktionieren. Mein Chef, der technische Leiter, war ein Idiot, der aus zwanzig Seiten Verlaufsprotokoll immer nur herauslesen konnte: »Irgendwo muss ein Fehler sein. Kümmern Sie sich drum, Steinbach.« Kein »Doktor Steinbach«, nicht einmal »Herr Steinbach«, und das Wort »bitte« kam in seinem Wortschatz überhaupt nicht vor.
    Kurze Zeit nach mir wurde noch jemand zu meiner Verstärkung eingestellt, ebenfalls ein Doktor der Physik und ebenfalls unterfordert mit dem, was wir zu tun hatten. Er hieß Konrad Hellermann und nahm die Dinge im Gegensatz zu mir mit stoischer Gelassenheit hin. Meine Laune sank dagegen mit jedem Monat, der verstrich.
    Der Vorfall, von dem zu berichten ist, ereignete sich an dem Tag, an dem ich Konrad von meinem Bruder erzählte. Ich halte das für eine nicht ganz unwesentliche Einzelheit, denn vielleicht wäre mir andernfalls die entscheidende Idee nie gekommen. Damals bemühte ich mich nämlich, so wenig an meinen Bruder zu denken wie möglich.
    Dieter war zwei Jahre jünger als ich, und es war von Anfang an klar gewesen, dass ich studieren würde und er nicht. Während ich gute Noten heimbrachte und schließlich ein Abitur, das sich sehen lassen konnte, brachte er gerade mal die Hauptschule hinter sich, und auch das nur mit Ach und Krach. Während ich zielstrebig durchs Studium pflügte, ließ er sich ziellos treiben, jobbte hier und da und schwängerte schließlich die schöne, junge Tochter eines hässlichen, alten Schrottplatzbesitzers. Sie heirateten, sein Schwiegervater übergab ihm das Geschäft, und von da an scheffelte er das Geld nur so. Ich hatte am Ende eine Urkunde, die mir die Würde eines Doktors bescheinigte, war arbeitslos und fuhr nur die Strecken mit der Straßenbahn, die zu Fuß nicht zu bewältigen waren. Dieter dagegen fuhr einen dicken Mercedes, in dem es zwar aussah wie auf einer Müllhalde und stank wie in einem Klärwerk, aber einen Mercedes. Mein Bruder hatte weder Manieren noch Stil, noch Geschmack, jeder wusste, dass die eine Hälfte seiner Geschäfte krumme Dinger waren und die andere Hälfte illegal, trotzdem saß er im Gemeinderat. Da musste man sich doch fragen, was man falsch gemacht hatte im Leben, oder?
    »Ach ja«, seufzte Konrad, während wir mit unserem kleinen Elektrowagen den Beschleunigertunnel entlangsummten. »Man gilt heutzutage einfach nichts mehr als Wissenschaftler. Oder? Hat schon mal jemand zu dir gesagt, ›Ach, Sie sind Quantenphysiker, wie beeindruckend‹? Eine Frau womöglich? Bestimmt nicht. – Halt mal da vorne, neben dem Schaltkasten.«
    Wir suchten seit ein paar Tagen einen überaus rätselhaften Fehler. Alle Kontrollsysteme meldeten normalen
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