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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.
Autoren: Andrea Camilleri
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behaupte ich am Ende gar noch, daß die ganze Welt eine einzige Absprache ist. Doch auf der anderen Seite – hält man sich an das, was uns die Zeitungen, die Nachrichten im Fernsehen und im Radio berichten, können wir da wirklich sicher sein, daß dem nicht so ist?

    Einige Jahre nach Vecchiettis Bericht las ich zufällig das Dizionario storico della mafia (Historisches Wörterbuch der Mafia) von Gino Pallotta (Rom, 1977) und stieß auf ein Stichwort, das für mich wie geschaffen war.

    »COMPONENDA. Form von Kompromiß, Vergleich, Absprache unter Freunden. Sie wurde zwischen dem Oberhaupt der berittenen Polizei und den Halunken oder ihren Komplizen zu einer bestimmten Zeit in Sizilien geschlossen. Dank der Absprache konnte der Geschädigte wieder in den Besitz des ihm Entwendeten kommen, wofür er seine Anzeige zurückzog. Alles wurde vergessen und begraben, und es kam sogar zum Austausch von Höflichkeitsfloskeln und Respektbezeigungen. Auf diesem Wege bog der Polizeioffizier die Dinge zurecht und schuf damit eine Gepflogenheit, eine Form von Gerechtigkeit außerhalb der offiziellen Gesetze. Auch auf diesem Wege bildete sich ein Gesetz, eine andere Legalität heraus, und auch diese, wenngleich sekundären Elemente, tragen wieder zur Auseinandersetzung über das, was Mafiamentalität sei, bei. Andererseits, wer wollte behaupten, daß diese gänzlich verschwunden ist? Man sollte eher bedenken, daß anstelle des Polizeioffiziers die Mafia als mafiose Justiz in die Rolle des Vermittlers schlüpfen kann. In diesem Fall entscheidet der Pate oder Boss, ob die Beute nur zum Teil oder ganz zurückgegeben wird.«

    Pallotta ging nicht einmal ansatzweise durch den Kopf, daß der Gesetzeshüter von einem ganz anderen Interesse als dem der Schaffung »einer Form von Gerechtigkeit außerhalb des offiziellen Rechts« beseelt sein könnte. Von wegen »Höflichkeitsfloskeln« und »Respektbezeigungen«. Bei Übereinkünften dieser Art kam der Gesetzeshüter auf seine Rechnung, was sich in der Prozentquote niederschlug, die ihm für seine Vermittlungsdienste zustand. Und abgesehen davon, wundere ich mich doch ziemlich über so vage Ausdrücke wie »das Oberhaupt der berittenen Polizei«, da glaubt man fast in Kanada unter den Rotjacken zu sein oder »zu einer bestimmten historischen Zeit in Sizilien«, was sich auch aufs Hochmittelalter beziehen könnte. Trotzdem war dieses »Stichwort«, wenngleich darunter nur ein einziges Absprachesystem, nämlich das von Wild angewandte, abgehandelt wird, summa summarum hinreichend, um als Epitaph meiner nicht ernsthaften Untersuchung zu fungieren.
     Wenn ich an Vecchiettis Schilderung einer derart eleganten und gefälligen Absprache zurückdenke, die ein kleines Meisterwerk, ein Beispiel für ein Handbuch sein könnte, erscheint mir das Stichwort beinahe banal.

    5.

    Herzzerreißender als der Tod eines geliebten Menschen mag vielleicht die Notwendigkeit erscheinen, daß wir in einem solchen Moment gezwungen sind, Hand anzulegen an die liebsten und persönlichsten Dinge, die diese Person im Laufe ihres Lebens hat aufbewahren wollen – Briefe, Fotografien, Grußkarten, trockene Blumen, armselige Gegenstände, an die sich die Erinnerung klammert. Mir ging das so bei meiner Mutter, und das Zögern, Zweifeln, Zittern, mit dem ich mich daranmachte, zum Beispiel einen vergilbten Brief aus seinem Kuvert zu ziehen, war wirklich ein Akt schmerzlicher Pietät: Doch ich behaupte, es war Selbstmitleid. In der Kassette, von der ich glaubte, sie enthielte nichts weiter als Staub, fand ich ein bedrucktes Blatt Papier, ein Rechteck in der Größe von fünfundvierzig mal dreißig Zentimetern: Ich erkannte es sofort, es war eine » bullailochisanti «, unmöglich das Wort so zu schreiben, wie meine Mutter und meine Großmutter es gewohnheitsgemäß aussprachen. Das Wort bedeutete einfach nur »Bulle der heiligen Stätten« oder eben Bettelbulle des apostolischen Legats in Siziliens, das die Fratres zum Sammeln von Almosen zugunsten der Missionen in Palästina berechtigte.

    Das Blatt war reich bebildert. Oben in der Mitte stand: »Hauptkommissariat des Heiligen Lands in Sizilien«, und darunter, auf der Abbildung einer Schriftrolle, waren die Worte: »Eingeschriebene Kirchenkinder der Brüderschaft der heiligen Stätten in Jerusalem«. Auf der linken und auf der rechten Seite waren acht Rundbilder mit Veduten des heiligen Abendmahls, des Jordans, von Bethlehem, des Bergs Tabor, des Gartens Gethsemane,
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