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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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roten Ballkleid machte sie zwei Tischdecken und einen Kissenbezug. Fünf Monate nach ihrer Ankunft erinnerte fast nichts mehr an das ehemalige Stadtmädchen. Das ganze Haus war voll mit textilen Andenken an ihr früheres Leben, die zusehends verblichen und verschlissen, bis man meinen konnte, diese Stoffe seien seit eh und je hier, in Palästina, gewesen. Die anderen Frauen betrachteten sie mit Anerkennung und Erstaunen. Einerseits ist es wahrhaft erfreulich, wie gut sie sich einlebt, nicht wie diese verwöhnten Damen, die hier ankommen und meinen, sie befänden sich in einem Feriendorf bei Zürich. Andererseits, mit welchem Gleichmut sie die modernsten Kleider in Gardinen verwandelt, Gott bewahre, die Creme de la Creme der Wiener Mode wird bei ihr zum Handtuch in der Fleischerei ihres Mannes. Auch die deutsche Sprache hatte Rachel Kanzelpult abgelegt. Sobald sie im Haifaer Hafen einen Fuß an Land gesetzt hatte, hatte sie sich geschworen, nur noch Hebräisch zu sprechen. Da sie kein einziges Wort konnte, hüllte sie sich lieber in Schweigen, selbst wenn ihr Gesprächspartner ebenfalls Deutsch sprach. Als Beamte von der zionistischen Führung den Ort besuchten, wurde einem von ihnen zugeflüstert, dass die schöne Frau an der Tür der Fleischerei auch in Österreich geboren sei. Sogleich überhäufte er sie mit einem aufgeregten Redeschwall, der mit einem stummen Blick erwidert wurde. Rachel verbarrikadierte sich hinter ihrem Schweigen, und die verlegene Delegation machte sich eilig aus dem Staub. Die Frauen, die die ernste, junge Nachbarin allmählich lieb gewannen, lobten sogleich ihre Treue zur hebräischen Sprache. Die Geschichte von der frechen Neueinwanderin, die dem Beamten eine Lektion in Sachen »Hebräer, sprich Hebräisch« erteilt hatte, machte die Runde, und viele grüßten Rachel auf der Straße. Sie grüßte mit leichtem Akzent zurück. Ihre wahren Beweggründe blieben verborgen, vielleicht sogar ihr selbst. Tief drinnen spürte sie instinktiv: Wenn sie auch nur einen schmalen Spalt offen ließe, würde die Trauer über ihr früheres Leben aufbranden und das ganze Land überschwemmen. Die Kleider, die Bälle, das Licht, das sich auf den Pflastersteinen brach, die Schneeflocken – all das wurde hinter Schloss und Riegel verbannt. Ein Blick zurück und sie würde, wie Eurydike, haltlos abgleiten in das süße, ach so süße europäische Inferno.
    Tagsüber half Rachel Mandelbaum ihrem Mann in der Fleischerei, von Blutgeruch umweht wie von einem Parfüm. Nachts saß sie im Bett und strickte ganz eifrig, damit ja kein einziger Gedanke aus der Vergangenheit in diese Gegenwart drang. Aber ein Mal im Monat legte sie das Strickzeug weg und stieg leise aus dem Bett. Abraham Mandelbaum stöhnte in veraltetem Polnisch, und Rachel streichelte ihm mit geübter Hand den Kopf und ging hinaus. Draußen: Palästina schläft. Die Erde atmet schwer, ihr Atem riecht nach Erde und Zitrushainen und Stroh. Und zwischen all dem wartet Seev Feinberg auf sie. Sie schließt die Augen, und er küsst ihren Hals. Sein Schnauzer kratzt ihre zarte, durchscheinende Haut. Aber Rachel dreht den Hals nicht weg. Im Gegenteil: Wieder und wieder reibt sie sich an dem drahtigen Haar. Über Zitrushaine, Strohballen, den Hafen und das große Meer kommt die Erinnerung an den Schnauzer eines österreichischen Soldaten, Johann hatte er geheißen, an den Weingeruch seiner Lippen, wenn er sie küsste, und an das pulsierende Blut in ihren Adern, wenn er sie im Walzertakt herumwirbelte. In diesen Momenten werden Rachel Mandelbaums Augen feucht und desgleichen ihre Vagina.

2
    A n dem Abend, an dem Jakob Markowitz dem jungen Araber den Kopf zerschmetterte, waren Rachel Mandelbaums Augen gar nicht erst feucht geworden. Nur Minuten vorher hatte Seev Feinberg ihr die Bluse ausgezogen und sein Gesicht gleich zwischen ihren Brüsten vergraben. Der österreichische Soldat Johann hatte es nie geschafft, ihren Brüsten einen Besuch abzustatten, und deshalb weckte die Berührung mit Seev Feinbergs Schnauzer dort keinerlei Empfindung, außer, vielleicht, einem leichten Stechen. Rachel Mandelbaum überlegte, ob sie Seev Feinbergs Kopf von der Brust auf den Hals umlenken sollte, aber ehe sie zu einer Entscheidung gelangte, hörte man das widerliche Krachen eines berstenden Schädels. Rachel kannte dieses Geräusch bestens. Es ist ja relativ selten, aber wem es einmal zu Ohren gekommen ist, dem bleibt es unverkennbar in Erinnerung. Eines schönen Abends in Wien,
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