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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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Beigeschmack verlieh. Obschon es nicht stimmt, daß es keine Geisteskrankheiten gibt und daß die Psychiater sie bloß erfunden haben, um ihre Patienten zu quälen und zu schröpfen, ist es dennoch wahr, daß normale Menschen viel verrücktere Dinge tun als die Verrückten. Der Unterschied besteht darin, daß der Verrückte das, was er tut, uneigennützig tut, der Normale hingegen des Ruhmes wegen, den man später in Bares umsetzen kann. Übrigens - es gibt auch solche, denen der Ruhm allein genügt. Die Sache ist also nicht ganz klar, aber wie dem auch sei, die noch nicht ausgestorbene Subspezies der subtilen Intellektuellen verachtete diese ganze Sammlung von Rekorden, in der besseren Gesellschaft war es kein Ruhmestitel, auswendig zu wissen, wieviel Meilen man auf allen vieren eine lila bemalte Muskatnuß mit der Nase vor sich herschieben kann.
    Man mußte sich also ein Buch ausdenken, das gleichsam dem Guinness-Buch der Rekorde angenähert, aber auch seriös genug wäre, auf daß man es, wie etwa die »Ersten drei Minuten« des Weltalls, nicht mit einem Achselzucken abtun könnte, zugleich aber nicht so abstrakt und mit Überlegungen über verschiedene Bosone und Quarks überfrachtet. Doch ein solch wahres, nicht ausgedachtes Buch über alles gleichzeitig zu schreiben, ein Buch, das alle anderen Bücher in den Schatten stellen würde, schien völlig unmöglich. Selbst ich hatte keine Ahnung, was für ein Buch das sein sollte; ich schlug den Verlegern nur ein Buch vor, das am miserabelsten, auf unübertreffliche Weise allen Bemühungen der Werbung entgegengesetzt wäre; doch der Vorschlag ließ die Verleger kalt. In der Tat, obwohl das Buch, das ich zu schreiben gedachte, für die Leser verlockend sein könnte - ist doch heute das Wichtigste der Rekord, und der schlechteste Roman der Welt wäre ja auch ein Rekord —, wäre es dennoch nicht ausgeschlossen, daß, auch wenn es mir gelänge, dieses schlechteste Buch zu schreiben, es niemand bemerken würde. Wie schade, daß ich nicht auf die bessere Idee gekommen bin, deren Frucht die »Eine Minute« ist. Angeblich hat der Verlag nicht einmal eine Niederlassung auf dem Mond, der Name »Moon Publishers« soll nur ein Reklametrick sein. Um sich jedoch nicht dem Vorwurf der Unredlichkeit auszusetzen, hat der Verleger angeblich durch die NASA beim nächsten Flug der »Columbia« auf den Mond einen Behälter mit dem Manuskript des Buches sowie einen kleinen Computer mit einem Lesegerät geschickt. Sollte also jemand den Namen beanstanden, kann man ihm gleich nachweisen, daß ein Teil der Verlagsarbeit tatsächlich auf dem Mond geleistet wird, da der Computer auf dem Märe Imbrium immerfort ein und dasselbe Manuskript liest, und daß er es gedankenlos liest, das macht nichts, denn im allgemeinen lesen auch die Lektoren in den irdischen Verlagen Manuskripte auf ähnliche Weise.
    Ich tat falsch daran, am Anfang meiner Rezension einen sarkastischen Ton anzuschlagen, der mehr nach Nörgelei als nach einer ernsthaften Auseinandersetzung aussieht, denn mit diesem Buch ist nicht zu spaßen. Man kann darüber empört sein, es als Beleidigung des ganzen Menschengeschlechts auffassen, und zwar eine geschickte Beleidigung, denn sie ist kaum zu widerlegen, es gibt ja im Buch nichts außer verifizierten Tatsachen; man kann sich damit trösten, daß wenigstens niemand daraus einen Film oder eine Fernseh-Serie machen wird, das ist ganz ausgeschlossen, aber es lohnt bestimmt, sich darüber Gedanken zu machen, obwohl die Schlußfolgerungen nicht rosig sein dürften.
    Das Buch ist zweifellos wahr und zugleich phantastisch — wenn man, so wie ich, als phantastisch das anerkennt, was die letzten Grenzen unseres Begriffsvermögens überschreitet. Nicht jedermann wird hierin mit mir einverstanden sein, ich aber bleibe bei meiner Behauptung, denn ich sehe die Misere unserer gegenwärtigen phantastischen Literatur, der Science-fiction, darin, daß sie zu wenig phantastisch ist, im Gegensatz zu der uns umgebenden Wirklichkeit. Es hat sich zum Beispiel gezeigt, daß ein Mensch mit einem entzweigeschnittenen Gehirn (es wurden schon viele solche Operationen durchgeführt, besonders bei Epileptikern) eine Person und zugleich mehr als eine Person ist. Es kommt vor, daß ein solcher Mensch, scheinbar ganz gewöhnlich und normal, nicht die Hose anziehen kann, weil seine rechte Hand sie nach oben und die linke nach unten zerrt, oder daß er seine Frau mit der einen Hand umarmt und mit der anderen
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