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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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wegstößt. Es wurde festgestellt, daß in bestimmten Situationen die rechte Halbkugel des Gehirns nicht weiß, was die linke wahrnimmt und denkt; der Schluß daraus sollte lauten, daß eine Bewußtseinsspaltung und sogar eine Persönlichkeitsspaltung eingetreten ist, daß somit in einem Körper zwei Personen leben. Andere Experimente haben jedoch erwiesen, daß nichts dergleichen zutrifft. Es ist nicht einmal so, daß wir es einmal mit einer einzigen Person und ein anderes Mal mit einer verdoppelten Person zu tun haben. Die Hypothese, daß es anderthalb oder gar mehr als zwei Personen sind, wurde gleichfalls widerlegt. Das sind keine Scherze — es hat sich gezeigt, daß es auf die Frage, wieviel Denkapparate eigentlich in einem solchen Menschen stecken, keine Antwort gibt. Das ist wahr und zugleich phantastisch. In diesem, und nur in diesem Sinn ist »Eine Minute« phantastisch.
    Obwohl dies eigentlich jedem mehr oder minder bekannt ist, denken wir im allgemeinen nicht daran, daß auf der Erde in jedem Augenblick alle Jahreszeiten, alle Klimata, alle Tages- und Nachtstunden gleichzeitig existieren. Diese Binsenwahrheit, die jeder Schüler einer Grundschule kennt oder zumindest kennen sollte, lebt irgendwie außerhalb unseres Bewußtseins. Vielleicht deshalb, weil wir nicht wissen, was wir mit dieser Wahrheit anfangen sollen. Die hierzu gezwungenen Elektronen, die in einem unerhörten Tempo die Bildschirme der Fernsehapparate belecken, zeigen uns jeden Abend die Welt, hineingestopft in die »Letzten Nachrichten«, in Stücke zerhackt, damit wir erfahren, was in China, in Schottland, in Italien, auf dem Meeresboden, in der Antarktis los ist, und uns scheint, daß wir in einer Viertelstunde erfahren haben, was in der ganzen Welt geschehen ist. Das stimmt natürlich nicht. Die Kameras der Reporter stechen den Erdball nur an einigen Stellen an, dort, wo ein wichtiger Politiker die Gangway eines Flugzeugs herabsteigt und mit verlogener Herzlichkeit die Hände anderer wichtiger Politiker schüttelt, wo gerade ein Zug entgleist ist, es kann aber keine x-beliebige Entgleisung sein, sondern eine, die sich gewaschen hat, mit Wagen, die zu Nudeln zusammengedreht sind und aus denen man die Menschen stückweise herauszieht, denn kleinere Unfälle gibt es schon zu viele - mit einem Wort, die Massenmedien lassen alles links liegen, was nicht Fünflinge, Staatsstreich (am besten mit einem ordentlichen Gemetzel verbunden), Papstbesuch oder königliche Schwangerschaft ist. Der gigantische, fünf Milliarden Menschen zählende Hintergrund dieser Ereignisse existiert zweifellos, wird doch jeder danach Befragte bestätigen, daß er selbstverständlich vom Dasein Millionen anderer Menschen weiß, und würde er einen Moment nachdenken, käme er selbst darauf, daß zwischen zwei seiner Atemzüge so und so viele Kinder geboren wurden und so und so viele Menschen gestorben sind. Es ist dies jedoch ein nebelhaftes Wissen, nicht weniger abstrakt als das Wissen darüber, daß, während ich diese Worte schreibe, irgendwo auf dem Mars in der fahlen Sonne eine schon nutzlose amerikanische Rakete steht und auf dem Mond ein paar Autowracks herumliegen. Das Wissen darüber ist eigentlich ein Nichts, denn man kann es mit dem Wort berühren, nicht aber erleben. Erleben kann man einen mikroskopischen Tropfen aus dem Meer der uns umgebenden menschlichen Schicksale. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Mensch nicht allzusehr von der Amöbe, die im Wassertropfen schwimmt, als wären dessen Grenzen die Grenzen der Welt. Den Hauptunterschied würde ich nicht in unserer Überlegenheit als vernunftbegabte Wesen über den Einzeller sehen, sondern vielmehr darin, daß dieser unsterblich ist, denn statt zu sterben, teilt er sich und wird auf diese Weise zu einer immer zahlreicheren Familie. Die Aufgabe, die sich die Autoren der »Einen Minute« gestellt haben, scheint also unlösbar. In der Tat, wenn man jemandem, der dieses Buch noch nicht in der Hand gehabt hat, sagt, daß es wenig Worte enthält, dagegen eine Unmenge statistischer Tabellen und Zahlenreihen, wird er im voraus zur Überzeugung gelangen, daß das ganze Unterfangen ein Flop, ja sogar eine Idiotie ist, denn was kann man schon mit Hunderten Seiten Statistik anfangen? Welche Bilder, Emotionen und Erlebnisse können Tausende von Zahlenkolonnen in unserem Kopf wecken? Gäbe es dieses Buch nicht, läge es nicht auf meinem Schreibtisch, würde ich selbst vielleicht den Einfall für originell, sogar
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