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Eine Minute der Menschheit.

Eine Minute der Menschheit.

Titel: Eine Minute der Menschheit.
Autoren: Stanislaw Lem
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nicht geringes - Nebenprodukt den sogenannten telephonischen Dienstleistungssex hervorgebracht. Firmen, die solche - und nur solche - Dienstleistungen anbieten, sind in der letzten Zeit aus dem Boden geschossen wie Pilze nach dem Regen: Es genügt, den Hörer zu heben, die entsprechende Nummer zu wählen, das Losungswort der Kreditkarte anzugeben, um die gewünschte Art von Obszönität verbal zu genießen — in Worten, per procura, sogar mit einer Australierin zu kopulieren, während man selbst in Ontario sitzt. Übrigens zweifelt derzeit bereits niemand daran, daß die Trennung des technischen Fortschritts vom Fortschritt des Guten unwiderruflich eingetreten ist — obwohl das Datum dieser Trennung, also des Zusammenbruchs des dem 19. Jahrhundert eigenen Glaubens an unseren kollektiven Marsch in die Zukunft in das Reich eines immer herrlicheren Lebens, nicht genau bestimmt werden kann. Die von der Technik geschaffenen Möglichkeiten beliebiger Realisierungen können ebenso dem Guten wie dem Bösen dienen. Hier zeigt sich wieder die Unmeßbarkeit des Guten — und es kommt auch vor, daß die Begriffe Gut und Böse selbst in der Abstraktion nicht eindeutig bestimmt werden können. Aus »One Human Minute« kann man zum Beispiel erfahren, wieviele wissenschaftliche Arbeiten in der Welt in dieser Zeiteinheit erscheinen, aber auch, wie winzig jener Teil seines Fachgebiets ist, den sich ein Wissenschaftler, sei es auch nur oberflächlich, aneignen kann. Die unablässig wachsende Zahl der Informationen, die er kennenlernen sollte, übersteigt einfach schon seine physische Aufnahmefähigkeit. Mehr oder weniger »alles« aus jedem Fachgebiet wissen heute nur die Supercomputer. Darüber, was im Laufe einer Minute die Computer zustande bringen, die allmählich von Tragarmen unserer Zivilisation zu deren Steuerern zu werden scheinen, kann man einiges erfahren, wenn man unter dem entsprechenden Stichwort nachschlägt. Die Modelle der neuesten Generation können in dieser Zeit etwa eine Milliarde logischer Operationen durchführen. Um aber die Wahrheit zu sagen — darüber, was wirklich in der Wissenschaft vorgeht, kann uns ein solcher fragmentarischer, gelegentlicher Einblick nichts sagen. Vielleicht aus diesem Grunde, vielleicht aber auch, um dem Buch, ohne seiner Popularität in Leserkreisen Abbruch zu tun, mehr intellektuelles Gewicht zu verleihen, wurde, neben den Einleitungen und Kommentaren zu den einzelnen Kapiteln, am Ende ein umfangreiches Nachwort hinzugefügt, eigentlich eine Art Traktat, das ausführlich die Berechnungsmethoden von »One Human Minute« erklärt — Methoden, die in manchen Fällen an wahrhaft detekti-vistische Arbeit beinahe im Geist von Sher-lock Holmes denken lassen. Wie jeder kritische Leser von Conan Doyle leicht erkennt, so ist die Unfehlbarkeit der berühmten Deduktionen Sherlock Holmes', der aus einem alten Hut, einer vergessenen Pfeife, einem Stock oder einer Uhr fehlerlos das Aussehen des unbekannten Eigentümers, sein Schicksal und seinen Charakter herauslesen und rekonstruieren konnte, auch solche Tatsachen, daß er zum Beispiel im Elend lebte, ein Resultat der Hilfe, die ihm insgeheim der Autor angedeihen ließ. Im übrigen wurden diese »klassischen« Deduktionen später in zahllosen Parodien verspottet, die zeigten, daß man, auf dieselbe Summe von Indizien gestützt, logisch kohärente, aber einander ausschließende — und zwar viele — Hypothesen aufbauen kann. Kein noch so genialer DetektivStatistiker wäre imstande gewesen, das von uns besprochene Buch im Alleingang zu schreiben, auch ein großes Team von Mathematikern hätte es nicht vollbracht, wären da nicht die Computer. Ein beträchtlicher Teil der Arbeit kam eher mechanisch zustande, das heißt, durch Umrechnung bekannter, leicht auffindbarer Daten auf die vorn Buchtitel vorgegebene Zeiteinheit. Waren jedoch solche Daten nirgends zu finden, mußten sie auf Umwegen ermittelt werden, indem man nach verschiedenen Korrelationen suchte (zum Beispiel wie hoch die positive Korrelation zwischen einer Havarie in einem E-Werk, infolge der in einer großen Stadt oder einem ganzen Landesteil für eine Zeitlang der Strom ausfiel, und der Zahl der Kinder ist, die etwa neun Monate später geboren wurden). Dort, wo wir es mit Einzelerscheinungen zu tun haben, und mit solchen befaßte sich Sherlock Holmes, kann das zerkaute Mundstück einer Pfeife ebensogut von der Stärke der Kiefer des Rauchers zeugen wie von seiner besonderen Vorliebe
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