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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Autoren: Bill Bryson
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Jahrhundert aufgetischt wurden, ist schon erschütternd, und Woodforde setzte sich kaum zu einer Mahlzeit hin, die er hinterher nicht liebevoll in allen Einzelheiten beschrieb. Folgendes wurde hei einem typischen Abendessen im Jahre 1784 kredenzt: Seezunge in Hummersauce, junges Hähnchen, Ochsenzunge, Rinderbraten, Suppe, Kalbsfilet mit Morcheln und Trüffeln,Taubenpastete, Kalbsbries, junge Gans und Erbsen, Aprikosenkonfitüre, Käsekuchen, gedünstete Champignons und Trifie. Bei einem anderen Ma (h)1 konnte er von einem Schleieteller probieren, einem Schinken, drei Hühnern, zwei gerösteten Enten, Nackenstück vom Schwein, Plumpudding und Zwetschgenkuchen, Apfeltörtchen, verschiedenen Früchten und Nüssen und das Ganze mit Rot- und Weißwein, Bier und Apfelwein herunterspülen. Nichts ging über ein gutes Essen. Als seine Schwester starb, hielt er seine aufrichtige Trauer schriftlich fest, fand aber auch Platz für die Bemerkung »Zum Abend heute feiner Truthahnbraten«. Aus der Außenwelt drang nicht viel in das Tagebuch. Der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg wurde kaum erwähnt, und den Sturm auf die Bastille 1789 notierte der gute Pastor zwar knapp als nackte Tatsache, schilderte aber en détail, was er zum Frühstück gefuttert hatte. Passenderweise betrifft auch der letzte Tagebucheintrag einen leckeren Schmaus.
    Woodforde war sicher ein anständiger Mensch — von Zeit zu Zeit schickte er den Armen Essen und führte ein untadeliges, tugendhaftes Leben —, doch in all den Jahren, in denen er brav sein Tagebuch vollschrieb, scheint er nicht einmal auch nur einen Gedanken an das Verfassen einer Predigt verschwendet oder besondere Zuneigung zu seinen Pfarrkindern empfunden zu haben außer dass er sich freute, wenn sie ihn zum Essen einluden, und stets gern hinging. Falls er nicht typisch ist für das, was typisch war, dann sieht man hier jedoch, was möglich war.
    Wie Mr. Marsham in all das hineinpasst, wird man nie erfahren.Wenn es sein Lebensziel war, möglichst wenige Spuren in der Geschichte zu hinterlassen, dann erreichte er das auf glorreiche Weise. 1851 war er neunundzwanzig Jahre alt und unverheiratet (was er zeit seines Lebens blieb). Seine Haushälterin, eine Dame mit dem interessant ungewöhnlichen Namen Elizabeth Worm, blieb — bis zu ihrem Tode 1899 — bei ihm, wenigstens sie muss ihn also nett gefunden haben. Ob ihn sonst noch jemand nett und unterhaltsam fand, wissen wir leider nicht.
    Einen kleinen ermutigenden Hinweis allerdings haben wir. Am letzten Sonntag im März 1851 führte die anglikanische Kirche eine landesweite Umfrage durch, um in Erfahrung zu bringen, wie viele Leute an dem Tag die Kirche besucht hatten. Die Ergebnisse waren schockierend. Mehr als die Hälfte aller Bewohner von England und Wales war überhaupt nicht zur Kirche gegangen und nur zwanzig Prozent in einen anglikanischen Gottesdienst. Wie genial die Pfarrer auch im Erdenken von mathematischen Regeln oder Anlegen von Wörterbüchern waren, für ihre Gemeinden waren sie offenbar nicht mehr annähernd so wichtig wie früher.
    Gott sei Dank hatte sich das in Mr. Marshams Pfarrei noch nicht herumgesprochen. Die Umfrage dort ergab, dass an dem Sonntag neunundsiebzig Gläubige den Morgengottesdienst und sechsundachtzig den am Nachmittag besucht hatten. Das waren etwa siebzig Prozent der Schäflein in seinem Kirchspiel — ein deutlich über dem landesweiten Durchschnitt liegendes Resultat. Angenommen, diese Beteiligung war normal bei ihm, dann war unser Mr. Marsham offenbar ein geachteter Mann.
    In dem Monat, als die anglikanische Kirche ihre Besucherumfrage durchführte, fand in Großbritannien auch eine Volkszählung statt, bei der man mit vertrauensbildender Präzision zu dem Ergebnis kam, dass das Land 20 959 477 Einwohner hatte. Die Briten stellten zwar nur 1,6 Prozent der Weltbevölkerung, doch dafür waren sie so reich und produktiv wie keine andere Nation. Diese 1,6 Prozent der Menschheit zeichneten für die Hälfte der weltweiten Kohle- und Eisenproduktion verantwortlich und beherrschten fast zwei Drittel der Seefahrt und ein Drittel des Handels. So gut wie alle Baumwollerzeugnisse der Welt wurden in britischen Fabriken hergestellt, auf Maschinen, die in Großbritannien erfunden und gebaut worden waren. Die Londoner Banken verfügten über größere Einlagen als alle Finanzzentren der Welt zusammen, und London war im Zentrum eines riesigen, wachsenden Empire, das zu seinen Hochzeiten knapp dreißig Millionen
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