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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Autoren: Bill Bryson
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Archäologen sagen — materielle Kultur hinterlassen. Bauten, Geräte, Werkzeuge, Schmuck und eben auch Gräber.« Er musterte die diversen Kirchtürme in der Ferne. »Von hier aus kann man zehn, zwölf weitere Gemeinden sehen. Das heißt, in unserer unmittelbaren Umgebung befinden sich wahrscheinlich eine Viertelmillion Grabstätten — und das alles in einem Landstrich, der immer nur ländlich ruhig war, wo nie großartig was passiert ist.«
    Das war Brians Art zu erklären, wie man in einer bukolischen, dünn besiedelten Region wie Norfolk auf 27 000 archäologische Funde pro Jahr kommen kann, auf mehr als in jeder anderen englischen Grafschaft. »Hier lassen die Menschen schon seit langem Dinge fallen — lange, bevor England England wurde.« Er zeigte mir eine Karte aller bekannten archäologischen Fundstellen in unserer Gemeinde. Auf fast jedem Acker und jeder Wiese war etwas geborgen oder entdeckt worden — jungsteinzeitliche Werkzeuge, römische Münzen und Keramik, angelsächsische Broschen, Grabstätten aus der Bronzezeit, Wikingergehöfte, und gleich hinter unserem Pfarrhaus hatte zum Beispiel ein Bauer beim Überqueren eines Feldes im Jahre 1985 einen seltenen römischen, unmöglich misszudeutenden phallusförmigen Anhänger gefunden.
    Ich stelle mir immer wieder voller Staunen und Verwunderung vor, wie dort, wo jetzt mein Grundstück endet, einst ein Mann in einer Toga stand, sich von oben bis unten abklopft und bestürzt zur Kennnis nimmt, dass er sein liebevoll gehütetes Andenken verloren hat, das dann siebzehn, achtzehn Jahrhunderte lang unbemerkt in der Erde liegt — während Angelsachsen, Wikinger und Normannen kamen und gingen, während die englische Sprache und Nation entstanden und die britische Monarchie und tausenderlei andere Dinge sich entwickelten. Und zum guten Schluss, Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, hebt dann jemand, der nun seinerseits verblüfft dreinschaut, das verlorene Schmuckstück auf.
    Als ich auf dem Dach meines Hauses stand und den unerwarteten Ausblick genoss, kam mir plötzlich der Gedanke, wieso der Fund eines römischen Phallusanhängers die (zugegeben kurze) Aufmerksamkeit der Welt erregt hatte, nicht aber das ganz normale Tun und Treiben der Menschen in all den zweitausend Jahren, seitdem das Ding in den Staub gefallen war. Klar, die Leute sind jahrhundertelang brav und unauffällig ihren Alltagsgeschäften nachgegangen — Essen, Schlafen, Sex und den anderen kleinen Freuden des Lebens —, dachte ich. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ja, genau! Daraus besteht Geschichte schließlich. Daraus, dass viele, viele Menschen normale Dinge tun! Selbst Einstein hat in seinem Leben sicher manchmal an seinen Urlaub gedacht und daran, was es zum Abendessen gab oder was für zierliche Fesseln die junge Dame hatte, die gegenüber aus der Straßenbahn stieg. Aus solchen Dingen besteht unser Leben und Denken, doch wir behandeln sie als zweitrangig und ernsthafter Betrachtung kaum wert. Ich weiß nicht, wie viele Stunden meines Schülerdaseins ich mich in US-amerikanischer Geschichte mit dem Missouri-Kompromiss oder in englischer mit den Rosenkriegen beschäftigen musste, jedenfalls wurde ich bei Weitem häufiger dazu angehalten als dazu, über die Geschichte des Essens und Schlafens, der Sexualität oder anderer kleiner Freuden nachzudenken.
    Deshalb, fand ich, ist es vielleicht nicht uninteressant, sich ein Buch lang einmal nur mit ganz gewöhnlichen Dingen zu befassen und ihnen endlich Beachtung zu schenken. Bei einem Gang durch mein Haus war ich beispielsweise verblüfft, ja, sogar ein wenig entsetzt darüber, wie wenig ich über die Welt hier drinnen wusste, und als ich eines Nachmittags am Küchentisch saß und gedankenverloren mit Salz- und Pfefferstreuer spielte, fiel mir auf, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, warum wir von allen Gewürzen dieser Erde ausgerechnet eine solch anhaltende Liebe zu diesen beiden hegen. Warum nicht zu Pfeffer und Kardamom oder zu Salz und Zimt? Und warum haben Gabeln vier Zinken und nicht drei oder fünf? Für all das muss es doch Gründe geben.
    Beim Anziehen fragte ich mich, warum alle meine Anzugjacken eine Reihe sinnloser Knöpfe an den Ärmeln haben, und als ich im Radio hörte, wie jemand davon sprach, dass er für Kost und Logis bezahle, merkte ich, dass ich nicht wusste, woher dieser Ausdruck kommt. Urplötzlich schien das Haus voller Geheimnisse zu stecken.
    Und so kam ich auf die Idee, einmal hindurchzugehen, von
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