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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Autoren: Bill Bryson
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achthundert Quadratkilometer fruchtbaren Grund und Boden samt sieben großen Herrenhäusern), schloss der Duke ihn sofort ins Herz, offenbar weniger, weil er in Paxton schon das Genialische witterte, als vielmehr, weil der junge Mann laut und deutlich redete. Der Herzog war nämlich schwerhörig und wusste eine klare Sprache zu schätzen. Spontan fragte er Paxton, ob er Obergärtner in Chatsworth werden wollte. Paxton wollte. Er war zweiundzwanzig Jahre alt.
    Ein überraschender und obendrein äußerst kluger Schachzug des Aristokraten. Denn Paxton stürzte sich mit schier schwindelerregender Energie und Hingabe in den Job. Er entwarf und baute den berühmten Emperor Fountain mit einem Wasserstrahl, der fast hundert Meter hoch in die Luft schoss, eine Meisterleistung der Ingenieurskunst, die in Europa bisher nur einmal übertroffen worden ist; er legte den größten Steingarten im Land an, plante ein neues Dorf auf dem Anwesen des Herzogs, wurde der führende Dahlienexperte der Welt, gewann Preise, weil er die feinsten Melonen, Feigen, Pfirsiche und Nektarinen im ganzen Land zog, und baute ein riesiges Tropenhaus, bekannt als Great Stove, großer Ofen. Das war mit einer Fläche von etwas über viertausend Quadratmetern so weitläufig, dass Königin Victoria bei einem Besuch 1843 mit einer Pferdekutsche durchfahren konnte. Durch verbesserte Bewirtschaftung und Verwaltung half Paxton dem Herzog außerdem, eine Million Pfund Schulden abzutragen. Und mit dem Segen seines Herrn gründete und leitete er zwei Gartenzeitschriften und eine landesweite Tageszeitung, die Daily News, bei der Charles Dickens kurze Zeit Redakteur war. Paxton schrieb Gartenbücher, investierte so geschickt in Eisenbahnaktien, dass er in den Vorstand von drei Gesellschaften berufen wurde, und ließ den ersten Stadtpark der Welt in Birkenhead bei Liverpool nach seinem Entwurf anlegen. Als der Chefbotaniker von Kew Gardens, dem königlichen botanischen Garten, Paxton 1849 eine kränkelnde, seltene Lilie schickte und fragte, ob er sie wohl retten könne, baute Paxton ein besonderes Treibhaus und — das versteht sich wohl von selbst — brachte sie in drei Monaten zum Blühen.
    Als er erfuhr, dass die Verantwortlichen für die Weltausstellung verzweifelt nach einem Entwurf für die große Schauhalle suchten, kam er auf die Idee, dass etwas Ähnliches wie seine Treibhäuser vielleicht funktionieren würde. Er kritzelte also, während er eine Vorstandssitzung der Midland Railway leitete, eine grobe Skizze auf ein Stück Löschpapier und stellte in den nächsten zwei Wochen die gesamten Zeichnungen zur Begutachtung fertig. Dann wurden für ihn sämtliche Wettbewerbsregeln gebrochen. Sein Entwurf wurde noch nach dem Abgabetermin angenommen und zudem explizit verbotene brennbare Materialien akzeptiert, zum Beispiel viele Quadratmeter Holzboden. Außerdem wiesen Architekturfachleute durchaus berechtigt darauf hin, dass er kein ausgebildeter Architekt sei und in dieser Größenordnung noch nie etwas gebaut habe. Gut, das hatte überhaupt noch niemand, und niemand konnte deshalb auch guten Gewissens behaupten, dass das Ganze machbar sei. Viele befürchteten, dass sich die Halle unerträglich aufheizen würde, wenn die Sonne darauf brannte und die Menschen sich darin drängelten. Andere hatten Angst, dass sich die Fenstersprossen oben in der Sommerhitze ausdehnen, die riesigen Glasscheiben lautlos herausfallen und die Besuchermassen darunter erschlagen würden. Die größte Sorge aber war, dass das äußerst zerbrechlich aussehende Gebilde in einem Sturm einfach weggeweht werden würde.
    Die Risiken waren also beträchtlich, und man war sich ihrer sehr wohl bewusst, doch nach wenigen Tagen besorgten Zögerns erteilten die Kommissionsmitglieder Paxton den Zuschlag. Nichts — ja, wirklich absolut nichts — sagt mehr über das viktorianische Großbritannien und die Geniestreiche aus, zu denen es fähig war, als dass man einen Gärtner mit dem Bau des kühnsten Gebäudes des Jahrhunderts betraute. Für Paxtons Kristallpalast brauchte man nämlich keinerlei Backsteine, ja, auch keinen Mörtel, keinen Zement und kein Fundament. Er wurde wie ein Zelt zusammengeschraubt und auf den Boden gestellt. Das war nicht nur eine findige Antwort auf eine monumentale Aufgabe, sondern auch eine radikale Abkehr von allem, was bisher versucht worden war.
    Der größte Vorteil von Paxtons luftigem Palast war, dass man ihn aus vorgefertigten, normierten Teilen errichten konnte.
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